Diagnose:  Keine halben Sachen

Anita Ruetz Dritter Platz Staatsmeisterschaften

Wo Anita Ruetz ist, wird es sportlich: Radfahren, Schwimmen, Laufen – oftmals querfeldein  oder auf Langlaufskiern. Ganz gleich welche neue sportliche Herausforderung sie sich sucht, bei der Tirolerin gibt es keine halben Sachen im Sport. Dennoch kommt der Begriff „halb“ in ihrem Sprachgebrauch vor: seit Geburt an hat Anita eine spastische Hemiparese, also eine Halbseitenlähmung. Der Grund dafür findet sich in einer vorgeburtlichen Gehirnblutung, die dafür sorgte, dass ein Teil ihrer linken Gehirnhälfte Schaden nahm. Da die Gehirnhälften „über Kreuz“ arbeiten, ist Anitas rechte Körperhälfte beeinträchtigt. Eine Halbseitenlähmung kann sich in ganz unterschiedlichen Ausprägungen zeigen. Manchmal ist das Gefühl wie das Wärme- oder Kälteempfinden verändert, manchmal ist die Bewegung und Koordination erschwert. Dies hängt davon ab, welche Bereiche des Gehirns beschädigt wurden. Die spastische Hemiparese ist die häufigste Form der Halbseitenlähmung. Die Spastik zeigt sich darin, dass die Muskulatur angespannter und die Muskelaktivität krampfhaft erhöht ist. Diese Verhärtungen sorgen für eine geringere Beweglichkeit. 

 

Anita entdeckte für sich, dass sich Sport und Training positiv auf die Spastik auswirken, und entwickelte einen unbändigen Ehrgeiz. Die zweifache Paralympicsteilnehmerin ist heute im Breitensport aktiv, doch auch hier sucht sie nach immer neuen Herausforderungen.

Hallo Anita, herzlichen Dank für Deine Zeit! Du sitzt gerade in Tirol – was dürfen wir noch über Dich wissen?

 

Anita Ruetz: Ich bin sicherlich eine Vollblutkämpferin, weil ich es in meinem Leben nicht gerade einfach hatte. Meine Behinderung habe ich seit meiner Geburt aufgrund einer Gehirnblutung. Zu Schulzeiten wurde ich viel gehänselt. Vor 38 Jahren war es mit einer Behinderung noch wesentlich schwieriger als heute. Heute sprechen wir über Inklusion – das war damals noch kein Thema  Ich musste mir alles erkämpfen. Das prägt mich bis heute, kommt mir aber im Sport zugute.

 

Dein Kämpferwille macht Dich also aus, insbesondere auch im Sport. Wie bist Du überhaupt zum Leistungssport gekommen?

 

Anita Ruetz: Ich war eine absolute Couchpotato, bis dass ich 1999 meinen Mann kennenlernte. Bis dahin war Sport überhaupt kein Thema für mich. Die Physiotherapeutin sagte mir zwar immer, dass ich Sport machen sollte, um meine Spastik zu reduzieren. Das interessierte mich eher wenig – mir war Sport einfach zu anstrengend (lacht). Dann lernte ich meinen Mann kennen, der sehr sportlich ist. Er motivierte mich, mit ihm Rad zu fahren. Für eine kleine 5km-Runde benötigte ich eine ganze Stunde und hatte einen Puls von über 200 (lacht). Sukzessiv und in kleinen Schritten steigerten wir aber die Umfänge, denn ich merkte, dass meiner Muskulatur Bewegung und Training wirklich guttut. Schließlich kam ich beim Schwimmen mit dem Behindertensport zum ersten Mal in Kontakt. Ich wurde ehrgeizig und nahm mir einen eigenen Trainer. In meinem Leben gibt es eben keine halben Sachen. Wenn ich etwas mache, muss es auch zu hundert Prozent passen. Ich fing daher mit Schwimmen an. Auf internationaler Ebene war ich aber zu schwach, da ich die Qualifikationszeiten nicht schaffte. Also ging ich zum Radsport über.

Im Radsport fuhrst Du schließlich Deine Erfolge ein, oder?

 

Anita Ruetz: In Österreich war ich die einzige Dame im Para-Radsport, sodass ich immer mit den Herren mitfuhr. Bei den Herrenrennen war ich zwar immer unter ferner Liefen, aber es war dennoch die schönste Zeit meiner Sportlerkarriere. Sogar bei den Männern hatte ich einen großen Erfolg – vielleicht meinen größten Erfolg: bei den österreichischen Staatsmeisterschaften im Einzelzeitfahren wurde ich bei den Männern Dritte (lacht). Ich verfolgte das Radfahren weiter und durfte 2008 in Peking und 2012 in London an den Paralympics teilnehmen sowie an mehreren Weltmeisterschaften. Nach London hörte ich schließlich auf, da der Sport mit meinem Beruf nicht mehr vereinbar war. Im Para-Sport wird es immer professioneller, sodass es nicht mehr geht, wenn man keine Sponsoren hat. Meine Intention besteht jetzt darin, dass ich der breiten Bevölkerung zeigen möchte, was mit einer Behinderung möglich ist. In den sozialen Medien und beim Breitensport zeige ich der Gesellschaft, dass man mit einer Behinderung genauso Sport machen und Erfolge einfahren kann.

Gibt es unter all diesen Erlebnissen ein absolutes Highlight für Dich?

 

Anita Ruetz: Peking war ein Highlight, London war ein Highlight. Aber am meisten stolz macht mich tatsächlich der dritte Platz bei den Staatsmeisterschaften bei den Männern. Das war der Beweis für mich, dass ich mithalten kann – auch mit den Männern. Jetzt mache ich bei vielen Wettbewerben mit, bei denen nicht-behinderte Personen starten, wie z. B. bei Laufwettbewerben. Da ist es für mich ein Highlight, dass ich bei den nicht-behinderten Damen mithalten kann.

 

Der Sport gehört mittlerweile ganz selbstverständlich zu Deinem Leben. Wie motivierst Du Dich für das tägliche Training und die immer neuen Herausforderungen?

 

Anita Ruetz: Es ist immer so, dass wenn man ein Ziel vor Augen hat, die Motivation von ganz alleine kommt. Im Wettbewerb entwickel ich oft „Superkräfte“. Ich bin bisweilen selbst überrascht und fasziniert, was ich in Wettbewerben leisten kann. Auf einmal ist das scheinbar Unmögliche doch möglich (lacht).

Im Winter probiertest Du Langlaufen aus, was an und für sich schon eine wacklige Angelegenheit ist. Wie funktioniert für Dich Langlaufen, aber auch das Radfahren und das ganz normale Laufen?

 

Anita Ruetz: Für mich bedeutet es höchste Konzentration. Ich muss immer meinen Fokus halten. Wenn ich müde werde und die Konzentration nachlässt, muss ich es lassen. Mein Gehirn muss sehr viel arbeiten, um die Bewegungen zu koordinieren. Beim Langlaufen kann ich mich auch nicht mit jemand anderem unterhalten, weil ich mich ganz auf die Bewegungen konzentrieren muss. Jeder Schritt muss gezielt überlegt sein und ich darf nichts falsch machen. Ein Gesunder braucht darüber gar nicht nachzudenken: du kannst zentral über dem Ski stehen und fällst vielleicht nur am Anfang hin, weil dir die Erfahrung mit den zwei Ski unter den Füßen fehlt. Ich hingegen muss ganz gezielt die Balance finden. Wenn auch nur der Hauch einer Spastik hochkommt, bin ich sofort außerhalb der Balance. Die Spastik kann ich aber nicht kontrollieren. Ich kann eben nicht einmal durchatmen und dann ist die Spastik wieder weg, sondern wenn die Spastik kommt, dann ist sie da. Wenn ich eine Trainingseinheit plane, muss ich sehr flexibel sein: wenn die Spastik dann doch kommt, muss ich das Training adaptieren oder umstellen.

 

Hast Du denn Tricks entwickelt, wie Du die Spastik zumindest ein wenig reduzieren kannst?

 

Anita Ruetz: Natürlich entwickelte ich über die Jahre hinweg Tricks, wie ich die Spastik reduzieren kann. Beim Langlaufen trage ich beheizbare Socken, sodass meine Füße und Muskulatur warm sind und die Muskulatur bleibt entspannt. Der größte Trick ist aber der Sport: je älter man wird, desto stärker wird die Spastik. Je trainierter meine Muskulatur aber ist, desto weniger schnell schreitet es voran.

Das klingt so, als wenn Dich die Spastik bisweilen stören würde. Ist das denn so oder hast Du Dich im Laufe des Lebens an die Spastik gewöhnt?

 

Anita Ruetz: Die Spastik ist teilweise schon störend. Bei mir kann von heute auf morgen etwas passieren, sodass die Spastik schlechter wird. Dann muss ich schnell switchen können und meinen Alltag komplett adaptieren. Wenn ich morgens früh einen Termin habe, muss ich mich eineinhalb Stunden zuvor fertig machen, weil es immer passieren kann, dass ich mich aufgrund der Spastik nicht richtig anziehen oder die Schuhe nicht binden kann. Wenn es dann hektisch würde, ginge es gar nicht mehr. Letztes Jahr griff die Spastik auf meine Blase über, sodass ich eine Harninkontinenz entwickelte – das ist natürlich extrem störend.

 

 

 

„Im Wettbewerb entwickel ich oft „Superkräfte“.“ ~ Anita Ruetz ist bisweilen überrascht,

wie sie ihre Grenzen in Wettkämpfen verschieben und überschreiten kann.

 

 

Das Langlaufen ist erst kürzlich in Dein Leben gekommen – immer wieder probierst Du Neues aus. Gibt es etwas, das nicht funktioniert?

 

Anita Ruetz: Es geht vieles. Alles geht nicht, zumindest nicht perfekt. Ich sage immer, dass wenn ich die Behinderung nicht hätte, ich vermutlich eine begnadete Bergläuferin wäre. Aufgrund der Behinderung ist es für mich sehr schwierig über Stock und Stein zu laufen. Ich probiere schon sehr viel aus. Ich hätte beispielsweise nie gedacht, dass Langlaufen geht. Es ist schon so, dass ich alles ausprobieren möchte. Wenn ich an meine Grenzen stoße, ist es aber eher gesundheitsschädigend für mich.

 

Was steht denn derzeit ganz oben auf Deiner To-Do-Liste?

 

Anita Ruetz: Mein aktuelles Projekt besteht darin, dass ich die Strecke des Öztaler Radmarathon fahren möchte. Ich wäre die erste Frau mit eine spastischen Halbseitenlähmung, die die Strecke absolvieren würde. Die Strecke umfasst 2038 Kilometer und 5500 Höhenmeter. Das ist derzeit ganz oben auf meiner To-Do-Liste. Ich bin aktuell in der Vorbereitung dafür, aber es ist schon eine besondere Herausforderung für mich. Meine Wattleistung muss ich für die Berge noch erhöhen, aber ich will es einfach probieren (lacht).

 

Den Leistungssport hast Du aufgeben müssen, da er mit Deinem Beruf nicht mehr kompatibel war. Wo liegen denn weitere Herausforderungen, mit denen sich der Para-Sport auseinandersetzen muss?

 

Anita Ruetz: Das Problem im Behindertensport ist, dass sich die Menschen darin nicht auskennen. Es gibt so viele verschiedene Klassen, sodass viele die Leistungen nicht einordnen können. Das ganze Klassifizierungssystem kann niemand verstehen (lacht). Wenn Wettbewerbe stattfinden, mangelt es einfach an Zuschauern. Im Behindertensport gibt es eine solche Vielfalt an Wettbewerben von den schwerstbehinderten SportlerInnen, die bei der Leichtathletik in Laufrädern starten bis hin zu nur leichtbehinderten SportlerInnen. In den Medien wird aber über Wettbewerbe mit Laufrädern nicht berichtet.

Insgesamt nehme ich es aber so wahr, dass in den Medien mehr über Para-Sport berichtet wird.

 

Anita Ruetz: In den Medien wird nur der Profisport präsentiert und damit eben auch nur die Para-SportlerInnen, die als Profis zu den Paralympics fahren. Alle anderen werden lediglich mitgezogen. In Österreich wird es langsam besser. Z. B. werden auch Para-SportlerInnen in den Heeres-Sport aufgenommen – das gab es zu meiner Zeit noch gar nicht. Du findest nur Sponsoren, wenn du einen Weltmeistertitel hast oder die Paralympics gewinnen konntest. Für mehr Nachwuchs im Behindertensport muss an der Basis gearbeitet werden. Viele Menschen mit Behinderung trauen sich gar nicht, mit ihrer Behinderung Sport auszuüben. Die SportlerInnen bei den Paralympics taugen sicherlich als Vorbilder, aber manche schrecken Fabelzeiten bei den Spielen auch ab, sodass sie gar nicht den ersten Schritt gehen.

 

Jetzt bist Du im Breitensport unterwegs – wie fallen die Reaktionen der anderen Teilnehmenden aus, wenn sie sehen, dass sie gegen Dich starten?

Anita Ruetz: Im Breitensport bei den „normalen“ SportlerInnen bekomme ich mehr Anerkennung als im Behindertensport. Die anderen SportlerInnen nehmen mich ganz anders wahr. Ich bekomme viel Zuspruch. Viele sprechen mich an und sind überrascht, dass ich ganz normal teilnehme. Die meisten kamen auch vorher nicht mit jemanden mit einer Behinderung in Berührung. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich heute viel lieber mit der breiten Masse Wettbewerbe austrage als im Behindertensport. In Tirol gibt es nicht so viele Damen mit meiner Behinderung, sodass ich immer Einzelstarterin war. Wenn man trainiert, braucht man ein Ziel und Vergleichsmöglichkeiten. Wenn man aber immer Einzelsportlerin ist, gibt es keine Vergleiche und damit für mich auch keine Ziele. Das wiederum schlägt sich negativ auf die Motivation nieder.

 

Dennoch konntest Du lange die Motivation hochhalten. Hast Du aus der Sicht einer Kämpfernatur Tipps für andere, wie man sich immer wieder neu motivieren kann?

 

Anita Ruetz: Ich hole mir die Motivation daraus, dass ich mir neue Herausforderungen wie z. B. das Langlaufen suche. Ich fing 2001 mit Schwimmen an und schon 2002 ließ ich das Schwimmen wieder bleiben. Danach war ich nicht einmal mehr in einem Schwimmbecken. Aufgrund einer Knieverletzung 2021 kam ich aber wieder zum Schwimmen. Weil es etwas Neues ist und man schnell Fortschritte sieht, entsteht für mich neue Motivation. Außerdem darf ich Teil eines Teams sein, in dem wir immer wieder kleine interne Challenges haben. Das motiviert auch ungemein. Mit den kleinen internen Wettbewerben, kann ich wunderbar neue Trainingsreize setzen. Wenn man aber eintöning trainiert, geht die Motivation bergab.

 

Als Medizinstudentin interessiert mich abschließend noch, was Du Dir von angehenden ÄrztInnen wünschst. Hast Du für uns auch solche tollen Tipps?

 

Anita Ruetz: Als MedizinerIn ist es immer gut, wenn man den Menschen als Komplettes sieht. Man sollte eben nicht nur die Nummer sechs mit der spastischen Hand sehen, sondern feststellen, dass noch mehr dahinter ist. In einem Arztgespräch sollte man als PatientIn immer merken, dass der Arzt oder die Ärztin dich als Person wahrnimmt. Ich habe das Glück, dass ich nur ÄrztInnen habe, die mich seit Jahrzehnten betreuen und mich komplett sehen. Bei einer Spastik werden schnell alle Beschwerden auf die Spastik geschoben, aber es kann auch sein, dass die Probleme überhaupt nicht von der Spastik kommen. Gutes Beispiel dazu: 2018 wurde mir der Daumen amputiert, woraufhin ich Nackenschmerzen entwickelte. Der Arzt schob dies auf die Spastik, die sich laut ihm eben auch noch im Schulter-Nackenbereich manifestierte. Schließlich suchte ich aber meinen Unfallarzt auf, der ein MRT machen ließ. Auf diesem war zu sehen, dass ich einen Bandscheibenvorfall hatte – die Spastik hatte damit nichts zu tun. Viele ÄrztInnen lesen nur „spastische Hemiparese“ und neigen direkt dazu, alles damit zu begründen.

 

Das sind wirklich viele tolle Tipps, die ich heute mitnehmen kann. Vielen Dank für Deine Ausführungen und gutes Gelingen bei Deinen nächsten Projekten!

 

Mehr von Anita Ruetz findet ihr hier: @r_uetzi_behindertensportlerin

 

Das Interview führte Katharina Tscheu.