Mehrtägige Fahrradrundfahrt mit rund 3000 Höhenmetern – die Rede ist von Carina Hilfenhaus und ihrer „MyChallenge2021“ und nicht etwa von der Tour de France. Neben mehreren Fahrrädern, zahlreichen UnterstützerInnen und einer guten Ausrüstung hat Carina noch einen weiteren wichtigen Helfer immer dabei: einen Herzschrittmacher. Im Alter von nicht einmal dreißig Jahren erhält sie diesen Unterstützer. Der Grund dafür: das Sick-Sinus-Syndrom. Dieser Überbegriff beschreibt gleich mehrere Erkrankungsbilder des Herzen, bei denen der Sinusknoten – der menschliche Schrittmacher – nicht mehr richtig arbeitet. So passiert es, dass das Herz zu langsam schlägt, gar aufhört zu schlagen oder sich ein langsamer Herzschlag mit einem zu schnellen Herzschlag abwechselt. Es braucht einen Schrittmacher, um dem Herzen dauerhaft wieder den richtigen Takt vorzugeben.
Doch nicht nur das Herz geriet bei Carina außer Kontrolle: einige Zeit später wurde bei ihr ein Pseudotumor cerebri (auch: „idiopathische intrakranielle Hypertension“) diagnostiziert. Bei dieser neurologischen Krankheit nimmt der Körper den Liquor, also das Nervenwasser, nicht mehr richtig auf. Damit steigt der Druck durch den Liquor auf das Gehirn und verursacht massive Kopfschmerzen und Sehstörungen – ganz ähnlich wie bei einem Tumor im Gehirn (daher der Name „Pseudotumor“). Die Erkrankung ist selten und ihre Ursache noch unbekannt. Damit der Hirndruck nicht zu groß wird, muss durch Punktionen der Liquor immer wieder abgelassen werden. Zusätzlich gibt es Medikamente, die dafür sorgen sollen, dass der Hirndruck langsamer – im besten Fall gar nicht – ansteigt.
Carina sorgt nun dafür, andere Menschen mit ihrer Geschichte zu inspirieren und ihnen mit ihrer Challenge neuen Lebensmut aufzuzeigen. Sie erzählt aber nicht nur von ihrer sportlichen Herausforderung, sondern auch von den Herausforderungen, die ihr das Leben und der Tod gestellt haben – die Tour ihres Lebens scheint gerade erst begonnen zu haben.
Geschichten sollte man immer von Anfang lesen oder hören, gerade Lebensgeschichten. Deine Geschichte nahm im Jahr 2011 eine ganz unerwartete Wendung. Was ist passiert?
Carina Hilfenhaus: 2011 blieb in einem Flugzeug mein Herz stehen, meine Tochter war gerade 20 Monate alt. Ich ließ sie fallen und wurde erst wieder wach, als ich hörte wie eine Ärztin, die mit an Bord war, sagte: „Wir haben wieder einen Puls.“ Wir sind in Budapest notgelandet, aber ich bekam keine Diagnose, sondern kämpfte mich ins Leben zurück. Ich schloss mein Studium in Pflegewissenschaft und -management ab und gründete 2014 mein eigenes Unternehmen. 2015 hatte ich einen zweiten Herzstillstand und ich wurde wieder reanimiert. Es wurde das Sick-Sinus-Syndrom diagnostiziert und mir ein Herzschrittmacher eingesetzt. Danach stürzte ich mich aber gleich wieder in die Arbeit und suchte doch die ganze Zeit nach dem Grund, warum ich noch am Leben war. In einem Kloster fragte ich später eine Nonne: „Warum lebe ich noch?“ Ihre Antwort war: „Das kann ich Dir nicht sagen, aber ich weiß, dass Du irgendwann den Menschen erzählen wirst, dass sie keine Angst vor dem Sterben haben brauchen.“ Damals konnte ich mit dieser Aussage gar nichts anfangen – heute mache ich aber genau das (lacht).
Bei Deinem zweiten Herzstillstand machtest Du eine Nahtoderfahrung. Wie fühlt sich sterben an?
Carina Hilfenhaus: An den ersten Herzstillstand im Flugzeug habe ich keine Erinnerungen mehr, obwohl ich dabei sogar länger weggetreten war als beim zweiten. Ich lag in diesem Krankenhausbett und der Arzt sagte noch, dass er glaube, es sei psychosomatisch – was für eine Anmaßung (lacht). Ich merkte nur, wie sich mein Kopf immer schneller dreht und ich die Augen schloss. Von jetzt auf gleich war es still. Es war ruhig und es gab keinen Strudel mehr. Ich merkte, wie die Wärme von unten nach oben kam. Ich wusste nicht mehr, dass ich einen Körper habe oder dass ich auf der Welt Menschen habe, die ich liebe. Es war die reine Seele und einfach friedvoll. Ich war losgelöst von allen. Es gibt keine Worte für diesen Zustand, weil wir auf der Welt dieses Gefühlt nicht kennen. Ich wäre in diesen Zustand gegangen, weil es sich so groß, warm, leicht und voller Frieden angefühlt hat. Ich wollte so sehr in diesem Zustand bleiben, dass ich richtig sauer war, als sie mich ins Leben zurückgeholt haben. Ich hatte überhaupt keine Angst. So muss sich der Frieden anfühlen. Ich kann jetzt die Augen schließen und mich in dieses Gefühl zurückversetzen, aber man muss es gefühlt haben, um es zu verstehen. Natürlich möchte ich nicht zerquetscht oder bei einem Autounfall überfahren werden, aber wenn dieses Gefühl das Sterben ist, habe ich keine Angst mehr davor zu sterben.
Damit Dein Herz nicht erneut stehen bleibt, hast Du einen Herzschrittmacher eingesetzt bekommen. Mit Herzschrittmachern werden aber eher ältere Menschen assoziiert. Wie empfindest Du als junger Mensch den Herzschrittmacher?
Carina Hilfenhaus: Das werde ich tatsächlich oft gefragt. Noch 2020 fragte ich den Kardiologen, ob ich den Herzschrittmacher wirklich brauche. Jedes Mal wurde mir versichert, dass ich den Schrittmacher unbedingt brauche. Er stimuliert das Herz bis zu 40 Prozent. Am Anfang haderte ich sehr damit. Wir hatten gerade ein Haus gebaut und eine schicke neue Küche mit Induktionskochfeld. Magnete sind aber die persönlichen Feinde des Schrittmachers. In der neuen Küche mussten wir das Kochfeld wieder ausbauen und einen Elektroherd einbauen. Das sind die Kleinigkeiten, die vielen Menschen ohne Herzschrittmacher nicht bewusst sind. Im Freizeitpark ist an jeder Achterbahn das Herzschrittmacherzeichen durchgestrichen, d. h. ich kann keine Achterbahn fahren. Das hört sich vielleicht banal an, aber es gewinnt eine andere Bedeutung, wenn dir die Entscheidung abgenommen wird. Magnetnamensschilder funktionieren für mich nicht. In manchen Geschäften sind die Kassen direkt an den Sicherheitsschleusen vom Eingang – dann muss ich darauf aufmerksam machen, dass ich dort aufgrund des Schrittmachers nicht stehen bleiben kann.
Gibt es sonst noch Situationen oder Momente, in denen Dich der Schrittmacher einschränkt?
Carina Hilfenhaus: Bevor ich den Schrittmacher bekam, war Tennis meine große Leidenschaft. Tennis darf ich nicht mehr spielen, da die Aufschlagbewegung für die Elektroden nicht gut ist. Aus Trotz wollte ich dann gar keinen Sport machen (lacht). Ein Jahr später wollten wir Ski fahren. Ich hatte eine schicke neue Skijacke, bei der die Tasche für den Skipass genau über dem Schrittmacher liegt. Über diese Jacke weinte ich so – anstatt zu sagen, dass ich mir eine schöne neue Jacke kaufe. Man wird einfach immer wieder daran erinnert, dass etwas anders ist.
Wir waren im Urlaub auf den Kapverden – das war bisher die kurioseste Situation (lacht). Dort gibt es nur einen ganz kleinen Flughafen. Ich zeigte meinen Schrittmacherausweis vor und dann begann das Umräumen: es gab dort nur eine alte Sicherheitsschleuse, sodass die Schränke weggeräumt werden mussten, damit ich daran vorbeigehen kann. Am Chiemsee kam erst die Versöhnung mit dem Schrittmacher. Heute bin ich jeden Tag neu dankbar, dass ich den Schrittmacher habe.
Bei einer unerwarteten Wendung in Deiner Lebensgeschichte blieb es aber nicht. Einige Zeit später, warst Du erneut im Krankenhaus.
Carina Hilfenhaus: Genau. Eines Morgens im Jahr 2017 wurde ich wach und meine Augen standen in zwei unterschiedliche Richtungen. Mit einem Auge fuhr ich noch ins Büro… Schnell war mir aber klar, dass ich ins Krankenhaus muss. Im MRT – alles ein bisschen komplizierter wegen des Schrittmachers – konnte man sehen, dass die Hirnanhangsdrüse plattgedrückt wurde – der Hirndruck war viel zu hoch. Ich wurde also gleich punktiert und Hirnwasser wurde abgelassen. Die Ursache dafür ist ein Pseudotumor. Erstmals dachte ich darüber nach, ob alles, was ich getan hatte, so gut war. Da ich regelmäßig punktiert werden musste, fing ich an, zusätzlich zu Beruf und Familie mein Leben um den Pseudotumor zu planen. Als ich 2019 langsam mit der Erkrankung zurechtkam, ist von heute auf morgen mein Mann schwer an Darmkrebs erkrankt. Nach der ersten Operation entwickelte er eine Sepsis, also eine Blutvergiftung. Eines Sonntagmorgens erhielt ich von der Klinikleitung einen Anruf, dass mein Mann erneut operiert wird, sie aber nicht sagen können, ob er es überlebt. Das war ein Schock, denn er war doch immer meine Stütze für meine Erkrankungen. Mit 34 Jahren wollte ich noch keine Witwe werden, obwohl wir auch ein Testament aufgesetzt hatten. An diesem Tag kam ich irgendwie in die Klinik und die Operation dauerte Stunden. In dieser Zeit stand ich einmal draußen vor der Klinik und blicke in den dunklen Himmel. Zum Universum sagte ich damals, dass wer auch immer da ist, mir doch bitte mein Mann gelassen werden soll. Ich würde mein Leben verändern und man könne alles von mir haben, nur mein Mann sollte diese Erkrankung bitte überleben. In diesem Moment wurde mir erst bewusst, wie viel Angst ich vor dem Leben hatte. Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich an diesen Moment denke. Mein Mann hat es überlebt.
Bevor Du Dein Leben grundlegend verändert hast, kam in Deinem Leben aber noch eine große Herausforderung auf Dich zu, oder?
Carina Hilfenhaus: Anfang 2020 fiel ich ein tiefes Loch, von dem ich niemals dachte, dass mir das passieren würde. Mein Mann war in der Reha und ich fand mich vor all meinen Tabletten wieder. Ich hatte zwei Möglichkeiten: entweder die Tabletten zu nehmen oder mit aller Kraft wieder aufzustehen. Ich musste an meine Tochter denken und sagte mir, dass wenn ich aufstehe, ich mit aller Kraft, die ich mobilisieren kann, aufstehen werde. Daraufhin fuhr ich an den Chiemsee in eine neuropsychiatrische Klinik und blieb dort solange, bis dass ich alle Antworten auf meine Lebensfragen bekam. Ich verkaufte meine Firmenanteile, setzte mich mit gesunder Ernährung auseinander, suchte mir neue ÄrztInnen und wollte wieder gesund werden. Auch der Sport kam in mein Leben zurück: Ich fing mit acht Minuten langsamen Laufen an – danach lag ich zwei Tage im Bett, da die Erschütterungen meinem Kopf schadeten. Dennoch versuchte ich es zwei Tage später erneut. Schon ein Jahr später konnte ich zehn Kilometer Joggen. Mir war klar, dass wenn ich das schaffe, ich eine sportliche Herausforderung brauche, um andere Menschen zu inspirieren. Es hat noch nie jemand ausprobiert, was sportlich mit einem Pseudotumor möglich ist. Meines Erachtens kann diese Erkrankung aber keine Einbahnstraße sein.
Diese sportliche Herausforderung hast Du gefunden und angenommen, wobei Du tatkräftige Unterstützung erhälst. Wen hast Du Dir als Unterstützung gesucht und wie genau sah Deine Herausforderung aus?
Carina Hilfenhaus: Ich kam mit Sponsoo zusammen, die mit mir ein besonderes Projekt starteten. Sie suchten mir Sponsoren, holten die Deutsche Herzstiftung und die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie dazu. Die Barmer ist auch ein Sponsor von mir und Garmisch-Partenkirchen wurde der Austragungsort. Die Challenge war es, eine mehrtägige Fahrradrundfahrt in und um Garmisch mit 3000 Höhenmetern zu absolvieren. Seit Anfang 2021 trainierte ich sechsmal in der Woche daraufhin. Ich muss dazusagen, dass im August 2020 zum letzten Mal Hirnwasser bei mir entlassen wurde. Mein Neurologe ist ganz begeistert davon (lacht). Jetzt komme ich gerade aus Garmisch zurück und ich kann sagen: ich habe meine Challenge erfolgreich gemeistert (lacht)! Ich bin einfach nur glücklich, da ich mit der Herausforderung viele andere Menschen inspirieren kann – nicht nur Menschen mit einem Pseudotumor.
Sechsmal in der Woche zu trainieren, klingt anstrengend. Woher nimmst Du Deine Motivation, Dich jeden Tag erneut auf das Fahrrad zu setzen?
Carina Hilfenhaus: Sechsmal die Woche Training zu haben, ist schon anstrengend (lacht), aber bei jedem Training war ich mit Begeisterung dabei. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man es nicht kann. Ich schätze dieses Privileg, die Füße voreinander zu setzen oder mit dem Fahrrad fahren zu können. Nur Regen ist mein „Endgegner“ (lacht). Bei Regen Fahrrad fahren ist bestimmt kein Vergnügen, aber auch dazu veränderte sich meine Einstellung nach und nach. In Garmisch hatten wir auch schlechtes Wetter. Im Rahmen einer Radiosendung lernte ich dort einen anderen Radfahrer mit Handicap kennen, der sagte, dass Regen nur von oben kommt und ansonsten nichts tut (lacht). Man kann also auch im Regen Fahrrad fahren.
Bei der Rundfahrt in Garmisch-Partenkrichen hast Du viel erlebt – gibt es den einen Höhepunkt dabei?
Carina Hilfenhaus: Die Rundfahrt hatte für mich noch einen zusätzlichen Reiz, da ich immer erst einen Tag vor der nächsten Tagestour erfuhr, wie die nächste Etappe aussehen wird. Ich fuhr drei Fahrräder: Travelbike, Mountainbike und Rennrad. So hatte ich nach einer Etappe nur ein kurzes Zeitfenster, um mich auf die nächste Tour vorzubereiten. Mein Highlight war so ein bisschen die Rennradtour, da sie landschaftlich unglaublich schön war. Als ich samstags ins Ziel fuhr, wartete bereits der Tourismusverband auf mich und überreichte mir eine Überraschung: ich durfte direkt auf einen Berg zum Paragliding – das war natürlich auch noch ein besonderes Highlight (lacht). Ehrlicherweise hatten alle Touren ihre Besonderheiten: bei einer Mountainbiketour fuhren wir die Kantaharabfahrt herunter. Meine ganze Familie begleitete mich – auch das war besonders.
Aus Dir sprüht nur so die Begeisterung über das Erlebte heraus. Wie sieht denn Dein nächstes Projekt aus?
Carina Hilfenhaus: Aktuell sortiere ich mich ein bisschen (lacht). Die Eindrücke müssen noch verarbeitet werden. Derzeit gebe ich viele Interviews und mein Buch wird in Kürze erscheinen. Für nächstes Jahr steht nur fest, dass es wieder eine Fahrradchallenge geben wird. Dazu kann ich aber noch nicht so viel sagen (lacht).
Deine Challenge hättest Du ohne Deinen Tiefpunkt nie absolviert. Die kleinen „Tiefs“ des Alltags kennt sicherlich jede und jeder von uns. Hast Du Tipps, um schlechte Zeiten zu meistern?
Carina Hilfenhaus: Jede und jeder muss seinen eigenen Weg finden. Bei allen ist gleich, dass jede und jeder einen Antreiber und seine Kraftquelle hat. Warum tue ich das? Nur weil man den Weg begonnen hat, muss man ihn nicht zu Ende gehen, wenn es sich nicht mehr richtig anfühlt. In Momenten des Zweifelns sollte man sich hinterfragen, ob man den Weg aus der eigenen Überzeugung heraus geht oder ob von außen gewollt wird, dass der Weg zu Ende gegangen wird. Seit 2020 entscheide ich viel mehr aus meinem Bauch heraus. Wenn ich mit voller Überzeugung für mich eine Entscheidung treffe, gibt es kein absolutes Falsch oder Richtig. Gut war dann nur, dass ich eine Entscheidung getroffen habe. Manchmal sehen wir erst im Nachhinein, wofür diese Entscheidung gut war. Daher habe ich auch nie mit meiner Geschichte gehadert. Mittlerweile frage ich mich nicht mehr, warum mir das passiert ist, sondern drehe es herum: warum sollte es mir denn nicht passieren? Wenn man den Druck, der sich aus Ehrgeiz begründet, reduziert, kann man Versöhnung mit sich selbst finden. So gewinnen wir den Blick für das Hier und Jetzt wieder. Genau das würde ich gerne allen Menschen mitgeben: mehr zu leben und zu ihren eigenen Werten zu stehen. Es gibt ein tolles Projekt, bei dem Menschen im Hospiz begleitet und gefragt werden,
was sie in ihrem Leben anders gemacht hätten. Die meisten hätten gerne mehr gelebt und weniger gearbeitet. Wir haben immer Angst, dass das Geld nicht reicht oder das Auto nicht schick genug ist. Alles Materielle wird so bedeutungslos, wenn Du dabei bist, geliebte Menschen zu verlieren – genau das fühlte ich in dem Moment, als ich in den Himmel schaute.
Zu derartigen Werten zu stehen, braucht aber auch ein gutes Rückgrat und viel Selbstvertrauen.
Carina Hilfenhaus: Im letzten Jahr verabschiedete ich mich ganz bewusst von Menschen, die mir nicht gut getan haben. Zum Teil begleiteten sie mich über Jahre, aber die Chemie stimmte nicht mehr oder sie sahen mich als Person nicht mehr. Ich weiß, dass man das aus Sicht der Gesellschaft nicht macht und dennoch nett bleibt. Aber es ist mein Leben und ich bin der einzige Mensch, der für mein Glück verantwortlich ist. Viele Menschen gingen aus meinem Leben, aber es kamen auch viele neue Menschen dazu oder Menschen, die länger nicht Teil meines Lebens waren, kamen wieder hinzu – es fühlt sich so viel besser an. Wir haben viele Wegbegleiter. Manchmal biegen die einen links ab, die anderen aber rechts und dann ist das auch in Ordnung.
Das heißt, dass Du es in den richtigen Momenten schaffst, „Nein“ zu sagen?
Carina Hilfenhaus: Ich arbeite noch daran (lacht). Als ich am Chiemsee war, stellte ich fest, dass ich es mag in Harmonie zu leben. Vermutlich wäre ich in einem Kloster am besten aufgehoben (lacht). Mir fällt es auch schwer, für andere Menschen in meinem Leben Grenzen zu setzen. In den letzten Monaten durfte ich beim Training aber auch viel Zeit mit mir alleine verbringen und in meinem Leben gibt es keine Personen, die mich vereinnahmen. Wenn ich jetzt mehr in die Öffentlichkeit gehe, werde ich wieder auf viele neue Menschen treffen, wo ich für mich Grenzen setzen muss.
Du hast selbst in der Pflege gearbeitet und kennst unser Gesundheitssystem daher aus verschiedenen Perspektiven. Was muss sich verändern bzw. was kann die nachkommende Generation von ÄrztInnen in unserem Gesundheitssystem verändern?
Carina Hilfenhaus: ÄrztInnen, PflegerInnen, TherapeutInnen, etc. arbeiten in einem interdisziplinären Team zusammen mit dem Ziel, dass die PatientInnen im besten Fall gesund werden bzw. an Lebensqualität gewinnen. Meines Erachtens ist das System falsch ausgerichtet: das ganze System fokussiert sich auf die Pathogenese, also darauf wie ein Mensch erkrankt. Ich bin ein absoluter Verfechter der Salutogenese (wie werden bzw. bleiben Menschen gesund). Es geht nicht darum, den Bandscheibenvorfall in Zimmer sieben zu betrachten, sondern herauszufinden, was dieser Mensch individuell benötigt. Ein Mensch ist nie ganz gesund oder nie ganz krank – der Mensch bewegt sich in einem Kontinuum. Wir sollten nicht nur den Fokus auf den Pathomechanismus setzen, sondern den Horizont erweitern. Wir haben so ein tolles Gesundheitssystem, aber unsere Ausrichtung ist falsch.
Darüber hinaus fehlt leider oft die Empathie und der Mut zum Perspektivwechsel. Ich hatte das Glück, dass ich die ÄrztInnen verstanden habe, aber viele meiner Bettnachbarinnen nicht. Aus Respekt den ÄrztInnen gegenüber fragten sie aber nicht nach. Für ÄrztInnen wäre es aber ein leichtes, ihren PatientInnen entgegenzukommen und für sie verständlich zu sprechen. Natürlich haben wir Rahmenbedingungen wie Gesetze und Abrechnungsvorgaben, die wir als Einzelperson nicht verändern können. Im Einzelnen ist eine Veränderung aber durchaus möglich. Deine Generation hat die Möglichkeiten neue Wege zu gehen. Aber dazu braucht es Mut und Neugier.
Uns allen kann ich damit nur wünschen, dass viele junge ÄrztInnen Mut und Neugier aufbringen. Vielen Dank für das schöne Gespräch!
Mehr zu Carina gibt es auf ihrer Homepage www.carinahilfenhaus.de und auf ihrem Instagramaccount @carinahilfenhaus
Das Interview führte Katharina Tscheu.