Diagnose: Rückhalt geben, Rückhalt bekommen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hallo Carsten, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für unsere Fragen nimmst.

Du bist oberarmamputiert – wie kam es dazu?

 

Carsten: Da muss ich etwas weiter ausholen. Ich habe 16 Jahre im Rettungsdienst gearbeitet und hatte 2008 einen schweren Motorradunfall. Aufgrund des Unfalls hatte ich eine Verletzung an der Hand, die überschüssiges Narbengewebe am kleinen Finger gebildet hat, sodass der Finger im rechten Winkel von der Hand weg stand und verdreht war. Ich hatte mich entschlossen – für meine Patienten und auch um die Handschuhe besser tragen zu können –, mich im Urlaub operieren zu lassen. In der Handchirurgie habe ich mir allerdings den hoch aggressiven Wundkeim Pseudomonas aeruginosa eingefangen – MRSA ist nichts dagegen. Der Keim hat sich innerhalb von 18 Monaten in meinem Körper ausgebreitet, zum Schluss war der ganze Arm betroffen. Ich habe ein halbes Jahr auf der Intensivstation gelegen – insgesamt habe ich 18 Monate im Krankenhaus gelegen und 158 Operationen über mich ergehen lassen: im Durchschnitt drei Operationen die Woche.

 

Das klingt sehr dramatisch. Wie ging es weiter?

 

Carsten: Zum Glück traf ich schließlich im Klinikum Hannover Nordstadt einen sehr fähigen Professor, dem auffiel, dass etwas nicht stimmt. Zu diesem Zeitpunkt war ich aber mehr tot als lebendig, sodass ich acht Tage nach meiner Ankunft amputiert wurde. Das war mein Glück, denn an diesem Tag war ich zweimal auf dem OP-Tisch komplett weg und musste reanimiert werden. Angesetzt waren für die Operation viereinhalb Stunden, es wurden fast 18 Stunden. Danach ging es mir vier Wochen lang relativ gut. Ich war kurz davor, in die Reha zu gehen. Eines Morgens bin ich aber aufgewacht und hatte eine leichte Magenverstimmung und Unwohlsein. Der Professor hat schnell geschaltet und mich notfallmäßig ins CT und MRT gebracht. Aus dem MRT wurde ich sofort in den Notfall-OP gebracht und innerhalb von 30 Minuten aufgemacht – erst danach hat man mir erzählt, dass ich im Bauchraum eine entzündliche Veränderung hatte, die doppelt so groß wie ein Fußball war, die außerdem kurz davor war, zu platzen. Das wäre tödlich verlaufen. Das hat mich massiv zurückgeworfen, sodass ich anfing zu überlegen, warum ich mir das noch antue. Mein kleiner Sohn hat mir aber am Telefon unter Tränen gesagt, dass er mich vermisse – das war mein Antrieb, mich durchzubeißen. Das ist die Geschichte zu meiner Amputation.

 

In der langen Zeit im Krankenhaus hast Du viel Kontakt zu ÄrztInnen gehabt. Was wünscht Du Dir von angehenden ÄrztInnen?

 

Carsten: Wie gesagt: ich komme selbst aus dem medizinischen Bereich. Fehler passieren überall. Ich würde mir aber z. B. wünschen, dass ÄrztInnen, auch wenn sie den Kittel tragen, sich Fehler eingestehen. Drei Pathologen haben unabhängig voneinander bestätigt, dass wenn man rechtzeitig reagiert hätte, man mir nur die Hand oder den Unterarm hätte amputieren müssen. So bin ich 10cm oberhalb des Ellenbogengelenks amputiert worden. Ich würde mich freuen, wenn angehende ÄrztInnen den Mut hätten, genauer hinzusehen. Im ersten Krankenhaus habe ich z. B. die Erfahrung gemacht, dass die jungen AssistenzärztInnen gute Ansätze hatten, aber bei der Visite von den älteren ÄrztInnen einfach überrannt wurden. Das finde ich schade, denn auch aus Fehlern lernen junge ÄrztInnen – umso sorgsamer sind sie später. Ich würde mir für angehende ÄrztInnen wünschen, dass sie den Mut aufbringen, ihren Verdachtsdiagnosen nachzugehen und zu diesen zu stehen, auch wenn ihre Vorgesetzten anderer Meinung sind. Die jungen ÄrztInnen, die gerade frisch aus der Uni kommen, haben vielleicht auch von Aspekten gehört, die den älteren ÄrztInnen gar nicht untergekommen sind. Das war bei mir so: ich bin einer von fünf Menschen in Deutschland seit 30 Jahren, die durch diesen Keim einen Arm verloren haben. Wie der Keim übertragen wurde, ist nicht bekannt und auch nicht mehr nachzuvollziehen. In meiner Ausbildung habe ich auch ein halbes Jahr im Krankenhaus direkt am OP-Tisch gearbeitet. Ich hatte das Glück, dass uns der Professor am Tisch gebeten hat, Auffälligkeiten anzumerken. Auch er als Professor ist nicht allwissend.

 

Gibt es außerdem noch etwas, das Du loswerden möchtest?


Carsten: Was ich dazu noch sagen kann, ist, dass heranwachsende ÄrztInnen sich auch mit dem Menschen näher befassen sollten. In meinem Fall durften sie das nicht. Ich habe sie in der Visite gesehen, aber alles andere wurde den Schwestern überlassen. Wenn ich geäußert habe, dass es mir nicht so gut ginge, hieß es: „Ach, stellen Sie sich nicht so an und seien Sie ein Mann.“ Wohlgemerkt, das ist im Jahr 2011 passiert.

Steht zu euren Ziel, steht zu dem, was ihr denkt. Prüft euren Verdacht und sprecht zumindest unter vier Augen in der Raucherecke mit dem Patienten, sodass er nähere Prüfungen zu diesem Verdacht wünscht. Ich weiß, dass es schwer im Krankenhausalltag ist, aber es gibt nicht nur immer den einen Weg.

Für uns ist euer Interesse etwas sehr Schönes. Ich würde mir wünschen, dass so etwas viel häufiger kommt. Nicht nur eure Generation, sondern auch zukünftige Generationen können immer wieder etwas Neues im Umgang mit amputierten Sportlern erfahren. Ich fände es schön, wenn sich mehr Studierende damit befassen und die Universitäten das auch unterstützen würden, sodass es vielleicht eine Aufwandsentschädigung gibt. Ganz wichtig ist mir aber, dass angehende ÄrztInnen den Mut aufbringen, ihrem Chef bei begründetem Verdacht die Stirn zu bieten.

 

 

Man kann Ihnen alles nehmen. Man kann Ihnen die Arme abschneiden, man kann Ihnen beide Beine abschneiden. Was man Ihnen niemals nehmen kann, ist Ihr Lächeln.

~ Ein Satz hinter dem noch so viel mehr steht, als auf den ersten Blick erkennbar ist.

 

 

18 Monate im Krankenhaus sind eine lange Zeit in einer Art Parallelwelt. Wie bist Du in Dein neues Leben gestartet?

 

Carsten: In dem Moment habe ich alles verloren. Ich habe eine 16-järige Ehe hinter mich gebracht, die kurz danach geschieden wurde. Ich hatte einen großen Resthof, der abbezahlt war, den ich verloren habe. Eigentlich habe ich alles verloren. Ich lebe von einer kleinen Rente und bin zusätzlich auf soziale Leistungen angewiesen. Ich bin wirklich auf den Boden gefallen. Im Rettungsdienst zuvor hatte ich eine alte Stelle inne, für die ich richtig viel Geld bekommen habe. Ich hatte zwei Motorräder, meine Frau hatte ein Auto – mir hat es an nichts gemangelt. Heute ist alles anders: ich lebe alleine, ich habe einen Kater, den ich auch nie wieder hergeben würde, und einen tollen Freundeskreis. Ich habe einen sehr großen Freundeskreis, aber für mich sind Freunde nicht gleich Freunde. Ich habe fünf richtig gute Freunde, mit denen ich über alles rede.

 

Wie unterstützen Dich Deine Freunde?

 

Carsten: Ich erinnere mich an einen Satz einer Patientin des Nachbarzimmers, als ich gerade amputiert worden bin. Zwei Wochen nach meiner Amputation bin ich in ein psychisches Tief gerutscht, was ich mir aber nicht eingestehen wollte. Irgendwann bin ich an ihrem Zimmer vorbeigekommen. Dort saß eine Frau meines Alters, die keine Beine mehr hat und aufgrund einer Erkrankung stückchenweise amputiert wurde. Der Professor hatte zuvor mit ihr besprochen, dass sie mit mir reden solle. Sie rief mich also zu sich, lächelte mich an und sagte: „Man kann Ihnen alles nehmen. Man kann Ihnen die Arme abschneiden, man kann Ihnen beide Beine abschneiden. Was man Ihnen niemals nehmen kann, ist Ihr Lächeln.“ Wenn man sich diesen Satz in Ruhe ins Gedächtnis ruft, merkt man, dass viel mehr dahinter steckt, als man auf den ersten Blick meint. An diese Person denke ich heute, wenn es mir schlecht geht. Sie ist heute einer meiner besten Freundinnen. Vorher kannte man sich gar nicht.

 

Solche Menschen braucht man in schwierigen Situationen auch.

 

Carsten: Du brauchst fähige Menschen, die sich Zeit für dich nehmen. TherapeutInnen, ÄrztInnen und Schwestern sind alle gleichermaßen gefragt. Wenn das Personal das nicht leisten kann, wird es schwierig. Zum Ende meiner Zeit im Krankenhaus war ich sehr geschwächt, mein Bauch war sechs Monate lang offen, jeden Tag wurden die Bauchtücher gewechselt – bei vollem Bewusstsein. Ich hatte das Glück, dass mich die Schwestern mitgenommen haben, wenn sie rauchen gegangen sind. Sie haben mich mit dem Bett herausgeschoben, mich zugedeckt und mich draußen stehen lassen. Jeder Bettenschieber wollte mich wieder mit ins Krankenhaus nehmen, weil sie nicht glauben konnten, dass die Schwestern ein Bett mit Patient draußen stehen lassen. Ich habe die frische Luft nach 18 Monaten im Krankenhaus echt gebraucht.

 

Du musst seit Deiner Amputation Dein Leben mit einem Arm bewältigen. Wie funktionieren alltägliche Dinge, wie z. B. Schuhe binden?

Carsten: Gar nicht. Ich klicke meine Schuhbänder immer nach hinten. Es gibt Einhandschleifen, die ich aber nicht hinbekomme. Aus reinem Frust habe ich mir Schuhe mit Klettverschlüssen gekauft. Das beste Beispiel ist das Öffnen einer Flasche. Ich halte die Flasche mit der Hand fest und drehe sie mit den Fingern dieser, also meiner, Hand auf. So habe ich eine unglaubliche Kraft entwickelt. Bei Ottobock wurde das gemessen, wobei festgestellt wurde, dass ich in dieser Hand das dreifache an Kraft besitze als andere Menschen. Auch Betten beziehe einarmig. Ich drehe dabei den Bettbezug auf links, lege die Decke mit den Spitzen hin, Spitze links rein, durchziehen, einmal kurz zwischen die Zähne, anders hin greifen, blind reinnehmen, herumziehen und umgreifen. Man muss es wissen und man muss es wollen. Bis heute habe ich noch nicht ausgelernt, auch heute lerne ich jeden Tag dazu. In der Rehaklinik hat mir der Physiotherapeut aber schon viele Tricks und Kniffe gezeigt. Er hat mir auch gesagt, dass ich niemals auslernen werde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wie hast Du die für Dich passende Prothese gefunden?

 

Carsten: Zunächst habe ich ganz schlechte Erfahrungen gemacht. In Hannover gibt es ein Sanitätshaus, das mit allen Krankenhäusern zusammenarbeitet. Von diesem Sanitätshaus bin ich besucht worden und nach acht Wochen hatte ich meine erste Prothese. Allerdings passte mein Oberarmschaft nicht, mir wurde nur ein Schnappgelenk als Ellenbogengelenk eingebaut (dieses muss man hochwerfen, um den Ellenbogen anzuwinkeln), ich hatte kein elektronisches Handgelenk und nur eine Hand mit der sogenannten Michelangelo-Öffnung. Dabei werden Daumen, Zeige- und Mittelfinger bewegt, die anderen Finger werden „mitgezogen“. Damit kann man aber nicht einmal ein richtiges Trinkglas greifen, weil die Spanne zu klein ist. Außerdem hatte ich als Bandage, mit der die Prothese am anderen Arm gehalten wird, nur so eine Art alten Rolladengurt, der mir die gesamte Achsel aufscheuerte. Insgesamt war ich also sehr unzufrieden. Daher habe ich mich ortsnah umgesehen und bin auf ein kleines Sanitätshaus gestoßen, die hauptsächlich Beine herstellen – wie die meisten Sanitätshäuser. Der Techniker dort (er ist immer noch mein Techniker) erkundigte sich aber bei Ottobock und suchte etwas Passendes für mich. Drei Wochen später hatte ich bei Ottobock einen Termin, bei dem alles erledigt wurde. Bei der weiterführenden Beratung habe ich mich ganz auf Ottobock verlassen, als es z. B. um die Auswahl des richtigen Gelenks ging. Noch heute fühle ich mich sehr gut beraten. Wir haben eine Muskelleitgeschwindigkeitsmessung gemacht, um herauszufinden, was für mich möglich ist. Vorher hatte ich nie etwas mit diesem Thema zu tun und doch konnte ich direkt mit dem Arm, der drei Meter entfernt auf dem Tisch stand, alles machen. Für mich war klar, dass ich genau das haben möchte! Ohne großen Tanz habe ich auch gleich die Zusage durch die Krankenkasse bekommen. Die Ausrüstung kostete 148.000 Euro plus Steuern.

 

Mittlerweile hast Du aber eine andere Hand.

 

Carsten: Genau. Im Alltag hatte ich Probleme mit der ursprünglichen Hand, da jede Tasse, jedes Glas größer ist, als dass ich sie mit der Hand hätte umfassen können. Ich musste mir die Tassen immer mit der anderen Hand in die Prothesenhand stellen. Bei Ottobock habe ich dann den Vorgänger meiner jetzigen Hand entdeckt. Mit einem kleinen Adapterstück konnte die Hand an meine Prothetik angesetzt werden. Ich habe mich sofort wohlgefühlt! Endlich konnte ich die Finger ganz aufmachen und nach Jahren konnte ich die Kaffeetasse wieder direkt hochheben. Seit 2020 gibt es die weiterentwickelte Form der Hand. Diese Hand lernt alleine, merkt sich gewisse Bewegungsabläufe und kann auf diese mit der Zeit zurückgreifen. Allerdings wollte die Krankenkasse nicht, dass ich diese Hand bekomme. Daraufhin bin ich vor das Sozialgericht gezogen, wo die Krankenkasse untergegangen ist. Ein paar Tage später hatte ich auch die schriftliche Kostenzusage. Die neue Hand habe ich seit August 2020.

 

Sehr spannend, was mittlerweile technisch möglich ist.

 

Carsten: Mit meiner neuen Hand könnte ich Dir sogar den Mittelfinger zeigen – ohne es böse zu meinen (lacht). Bei dieser Hand ist jedes Gelenk vorhanden, was auch an menschlichen Händen zu finden ist. Wenn du mit der linken Hand ganz langsam den Ablauf durchgehst und die Hand schließt, kommt der Mittelfinger automatisch mit, der muss aber oben bleiben. Das ist schwierig – daran sieht man, wie weit die Technik schon ist.

 

Gibt es denn noch etwas, das Dir an der Prothese fehlt?

 

Carsten: Natürlich bist mit der Prothese eingeschränkt. Du kannst z. B. nur maximal sechs Kilo tragen, bei mehr Gewicht würden die Gelenke kaputt gehen. Sicherlich würde ich mir wünschen, dass das anders wäre. Gleichzeitig muss man aber auch bedenken, dass das Gewicht über die andere Achsel getragen wird und ob mir das gefallen würde, weiß ich nicht. Ehrlicherweise gibt es derzeit gar nichts, was ich mir noch wünschen würde. Ich bin sehr glücklich mit dem, was ich derzeit habe. Es war eine lange Zeit, bis dass es soweit war. Durch meine Erfahrungen hat es lange gedauert, bis dass ich zu den Technikern bei Ottobock Vertrauen gefasst und gemerkt habe, dass es ihnen nicht um das Geld geht. Ihr Wunsch ist es, dass ich mich mit dem Produkt wohlfühle. Der Techniker könnte mir einen klobigen Schaft bauen, der auch unter der Kleidung auffällt. Oder er zaubert mir einen so schönen Schaft, der wie mein anderer Arm aussieht. Bei vielen Amputierten ist es so, dass die Seite mit der fehlenden Gliedmaße wesentlich größer im Umfang ist. Es gibt Menschen, auch Ärzte, die nicht glauben wollten, dass ich oberarmamputiert bin. Erst wenn ich mit der Faust auf meinen Oberarm klopfe, fällt es auf. Das macht ein gutes Sanitätshaus bzw. einen sehr guten Techniker aus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Begonnen hat es für Carsten mit einem Schnappgelenk, mittlerweile benutzt er eine Arm- und Handprothese, die sogar alleine lernt und mittels Fernwartung ausgelesen werden kann. 

 

Beim Fußball spielst Du ohne die Prothese und stehst im Tor. Wie bist Du denn zum Fußball gekommen?

 

Carsten: Das war so eine ganz doofe Geschichte (lacht). Ich habe nie etwas mit dem Tor zu tun gehabt. In meiner Jugend habe ich als Feldspieler mehrere Jahre lang Fußball gespielt, bis dass ich als Jugendlicher das Interesse verloren habe. Damals war ich auch bei der freiwilligen Feuerwehr und bei den Pfadfindern. Mit Beginn meiner Berufsausbildung musste ich aber überlegen, was in der Freizeit noch möglich ist und bin bei der Feuerwehr geblieben. Ich habe unter Tage im Kreis Recklinghausen gelernt und bin vom Fußball weggekommen. 2015 in der Rehaklinik habe ich einen jetzigen Feldspieler von uns kennengelernt, der mittlerweile auch mein bester Freund ist. Interessanterweise sehen wir uns auch sehr ähnlich, haben aber keine verwandtschaftlichen Verhältnisse. 2018 sitzen wir bei ihm beim Grillen und er erzählt mir, dass er sich beim Amputierten-Fußball angemeldet hätte. Mein bester Freund hatte mich auch noch ohne mein Wissen angemeldet. Meine Reaktion fiel etwa so aus: „Du kannst mich doch nicht einfach irgendwo anmelden. Amputierten-Fußball? Was ist das denn? Hast Du zu viel getrunken?“ Ich konnte mir das nicht vorstellen. Als das Thema Amputierten-Fußball in Deutschland richtig anlief, war ich das erste Mal in Hoffenheim. In Hoffenheim hielt Christian Heintz einen Vortrag darüber, wie der Amputierten-Fußball weiterentwickelt wird und dass die Aktion Mensch das Projekt ab sofort fördert. Ich war von der Sache sofort begeistert. An diesem Wochenende stand ich zum ersten Mal im Tor und habe die Bälle auch gehalten. Samstagabends habe ich sofort unterschrieben. Seitdem bin ich voll dabei. Es macht mir richtig Spaß und ich gehe sehr gerne zum Training. Aktuell kann ich aufgrund meines Herzens nicht spielen. Solange ich nicht spielen kann, kümmere ich mich um das Organisatorische.

 

Aus dem Fernsehen kennt man das Torwarttraining der Bundesliga-Torwarte. Wie trainiert ihr denn? Gibt es für Dich auch ein spezielles Torwarttraining?
 

Carsten: Es gibt auch bei uns ein Torwarttraining, das vom „normalen“ Torwarttraining abgeschaut ist. Dabei ist es aber so, dass nie alle den gleichen Arm amputiert haben. Jeder macht so viel, wie er kann und noch einmal zehn Prozent zusätzlich. Es gibt einige Standardübungen, die auch jeder Amputierte gut machen kann. Beispiel: man stellt sich fünf Meter auseinander gegenüber, stellt sich auf die Zehenspitzen, fängt den Ball aus der Luft (Hacken vom Boden und beide Arme ganz nach oben) und führt den Ball vor die Brust. Das ist eine ganz klassische Torwartübung, die unglaublich anstrengend für die Waden ist. Wir machen viele Übungen genauso wie im klassischen Torwarttraining auch, nur eben mit einem Arm. Vielen Torwarttrainern fällt es schwer, sich den zweiten Arm wegzudenken. Leider gibt es noch keinen amputierten Torwarttrainer. Sollte ich nicht mehr auf das Spielfeld dürfen, würde ich gerne den Torwarttrainerschein machen, da ich als Betroffener weiß, wie es funktioniert. Das kann ein Zweiarmiger einfach nicht.

 

Abgesehen vom Trainerschein: was gibt es noch für Ziele?

 

Carsten: Momentan schwimme ich mit der Lage. Die Turnierrunde 2020 war nur ein Spiel, ab 2021 wird es viel ernster, denn dann gibt es die erste deutsche Amputierten-Bundesliga. Bislang ist das Thema Amputierten-Fußball in Deutschland sehr stiefmütterlich behandelt worden. Wir haben drei Mannschaften, um die Bundesliga zu gründen und es ist in Planung, dass weitere Mannschaften gegründet werden und sich etablieren. Wir ziehen das jetzt durch. Ursprünglich waren wir 15 Spieler, 2020 in der Turnierrunde waren wir schon über vierzig Spieler. In knapp zwei Jahren hat sich unsere Spieleranzahl mehr als verdoppelt und das in einer Sportart, die in Deutschland nahezu unbekannt ist. In anderen Ländern ist die Sportart viel bekannter, selbst in Afghanistan und im tiefsten Russland gibt es Amputierten-Fußball. Gerade bei uns Braunschweigern sieht man die Entwicklung. Bei uns ist endlich genügend Personal da, um den Hoffenheimern die Stirn zu bieten. Wir sind vorher zu Spielen angereist, wo vier Feldspieler und ein Torwart gebraucht wurden und wir sind genau mit passender Spielerzahl angekommen oder mussten uns gar noch einen Spieler leihen. Das ist mittlerweile anders.

 

Wir wünschen Dir und dem Amputierten-Fußball weiterhin viel Erfolg.

 

Das Interview führte Katharina Tscheu.

Hechten, Bälle abwehren, Bälle halten, Bälle fangen – die Aufgaben eines jeden Torwarts. Er ist der Rückhalt der Mannschaft, er muss immer rechtzeitig zur Stelle sein. Carsten ist nicht nur Torwart der Sportfreunde Braunschweig, sondern kümmert sich auch noch um die Organisation der Mannschaft. Wenn man Carsten auf dem Fußballplatz antrifft, fällt neben seinem Einsatz auch noch auf, dass er oberarmamputiert ist. Aufgrund einer Infektion mit dem aggressiven Wundkeim Pseudomonas aeruginosa musste schließlich linksseitig oberhalb des Ellenbogengelenks amputiert werden. Das Stäbchenbakterium ist eine der häufigsten Ursachen für nosokomialen Infektionen, also Infektionen, die im Krankenhaus erworben werden. Im Gegensatz zu anderen Krankenhauskeimen wie MRSA ist dieser Erreger aber kaum bekannt. Der Erreger kann an verschiedenen Stellen im Körper Infektionen mit unterschiedliche Symptome verursachen: zum Spektrum der Infektionen gehören neben Entzündungen des Ohres und des Auges auch Harnwegsinfektionen oder Lungenentzündungen. Gelangt der Erreger in die Blutbahn, kann in seltenen Fällen neben einer Blutvergiftung auch eine Infektion von Knochen und Gelenken vorkommen. Bei Carsten passierte dies im Arm. Zusätzlich sind die meisten Stämme von Pseudomonas aeruginosa von Natur aus gegen zahlreiche Antibiotika resistent, sodass eine Behandlung meistens schwierig und langwierig ist.

Im Interview berichtet Carsten von seiner langen Zeit im Krankenhaus, erklärt uns seine neuste Prothese und begeistert für den Amputierten-Fußball.

Es gibt aber auch sehr gute Prothetik mittlerweile. Was für eine Prothese nutzt Du und wie funktioniert diese?

 

Carsten: Ich trage eine myoelektrische Prothese von Ottobock, die über Druck und Elektrizität, die bei der Anspannung verschiedener Muskeln automatisch erzeugt wird, gesteuert wird. Ich habe ein elektronisches Ellenbogengelenk, ein elektronisches Handgelenk und eine ganz neue Hand, mit der ich jeden Finger einzeln bewegen kann. Nur beim Auto fahren ist es mit dem Lenkrad etwas schwierig, wenn die Prothese im Schoß liegt. Gerade wenn ich einen Transporter mit erhöhter Sitzposition fahre, ist es für mich angenehmer, wenn ich die Prothese gleich auslasse.

Im Video zeigt uns Carsten, wie seine Prothese funktioniert.