Diagnose: Grenzen überwinden, verschieben und überfliegen

Beim Fliegen werden Grenzen überwunden – Holger Schönenberg hat sich seinen Traum erfüllt und ist Pilot geworden. Dabei verschiebt er Grenzen, denn er sitzt im Rollstuhl. Im Alter von 14 Jahren ist bei ihm ein Lipom und eine Spina bifida occulta im Lendenwirbelsäulenbereich entdeckt worden. Unter Lipom wird ein gutartiger Tumor des Fettgewebes verstanden, der meistens harmlos ist. Nur selten ist ein Lipom im Bereich der Lendenwirbelsäule zu finden, wesentlich häufiger ist es als runder oder ovaler Knoten unmittelbar unter der Haut an Armen und Beinen zu tasten. Bei Holger Schönenberg wurde zusätzlich eine Spina bidifa occulta (im Sprachgebrauch bekannt als „offener Rücken“) gefunden, die meistens nur durch Zufall auffällt. In der dritten bis vierten Schwangerschaftswoche verschließt sich das Neuralrohr. Wenn hierbei jedoch Störungen auftreten und sich das Neuralrohr nicht vollständig verschließen kann, kommt es zu einer Spina bifida. Handelt es sich um die geschlossene Form, ist der Rücken bei Neugeborenen verschlossen und nur der Wirbelbogen ist gespalten. Die

Vor Deinen Operationen wusstest Du über die Möglichkeit einer Querschnittslähmung Bescheid. Wie bist Du mit diesem Wissen umgegangen?

 

Holger Schönenberg: Nun ist es schon eine Weile her – ich bin dieses Jahr 45 Jahre alt geworden –, also ziemlich genau 30 Jahre. Deswegen weiß ich nicht mehr alle Details. Ich weiß aber schon noch, dass ich mit meinen Eltern gemeinsam beim Aufklärungsgespräch war und alles besprochen wurde. Ich bin aber schon immer ein positiver Mensch gewesen. Mir war klar, dass ich operiert werde und es gibt eine Chance, dass es schief geht – aber das wird nicht passieren. Deswegen habe ich mich mit dieser Möglichkeit nicht wirklich auseinander gesetzt. Ich weiß, dass es für meine Eltern schlimm war, sie hatten natürlich Angst. Für mich war es gar keine Bedrohung. Diese Haltung hat sich bis heute durchgezogen. Ich habe auch noch Recht behalten. Bei der ersten Operation hatte es gut funktioniert. So bin ich auch in die zweite Operation gegangen, mit dem gleichen Mindset. Nur lief diese schief.

 

Du warst durch die Operationen und auch bei der späteren Reha sehr lange im Krankenhaus und nicht bei Deiner Familie. Wie erlebt man als Jugendlicher eine solche Zeit?

 

Holger Schönenberg: Diese Zeit im Krankenhaus war ganz unterschiedlich. Nach der ersten Operation bin ich aufgewacht, es wurden verschiedene neurologische Tests gemacht und es war klar, dass es gut funktioniert hat. Es hat noch ein paar Wochen gedauert und dann konnte ich wieder laufen – besser als je zuvor. Das war eine Zeit, die nicht schön war – Krankenhaus ist nie schön –, aber ich bin ein relativ offener Mensch. Ich habe dort ganz schnell Freundschaften geschlossen, die Krankenschwestern haben mich ins Herz geschlossen.

Nach der zweiten Operation war es so, dass die Decke von meinen Beinen zurückgeschlagen wurde und ich bei den Testungen nichts spürte. Es war klar, dass etwas schief gegangen ist. Das war eine andere Situation, weil man einfach nicht wusste, wie es ausgeht. Die Blasenfunktion und die Darmfunktion war gestört – Querschnittslähmung. Ich habe gemerkt, dass ich mit Ungewissheit nicht gut umgehen kann. Ich bin jemand, der ein Ziel braucht und weiß, woran er ist. Ungewissheit ist nicht so meins. Es war aber eine sehr von Ungewissheit geprägte Phase. Nichts desto trotz habe ich mich über kleine Dinge gefreut. Z. B. kam der Arzt und verkündete, dass ich Sitzschulungen machen darf. Das war toll, weil ich nur gelegen habe – die Narbe ist auch ca. 20cm lang. Sitzen war für mich ein Highlight – und so habe ich mich von Highlight zu Highlight gehangelt. Das nächste Highlight war dann, dass ich nicht mehr so einen elenden Krankenhausshopper fahren musste, sondern einen eigenen Rollstuhl bekommen habe, bei dem ich mir die Farbe aussuchen durfte. Insofern habe ich an die Zeit im Krankenhaus, wenn man so will, relativ positive Erinnerungen. Man muss ja aus dem, was ist, das Beste machen. 

 

Hast Du danach gleich alle Hilfsmitteln wie z. B. den Rollstuhl durch die Krankenkasse erhalten oder musstest Du kleine Kämpfe ausfechten?

 

Holger Schönenberg: Das war schon ein Kampf. Beim ersten Rollstuhl hat man ja gar keine Ahnung. Da hat man das genommen, was der Rehaberater empfohlen hat. Es gab damals auch noch – anders als es heute ist – kein Rollstuhltraining oder psychologische Betreuung. Insofern hieß es dann: „Du kannst Dir die Farbe aussuchen. Der Rollstuhl ist doch praktisch, da kann man die Fußrasten abklappen.“ Erst im Laufe der Zeit fängt man an, sich damit zu beschäftigen. Man spricht mit anderen Rollstuhlfahrern, die schon lange im Rollstuhl sitzen. Da merkt man, dass man eine Schrottmühle fährt. Man möchte natürlich einen Rollstuhl bekommen, mit dem man aktiver sein kann. Da geht es natürlich los, weil die Krankenkasse sieht, dass man schon einen Rollstuhl hat. Das waren schon Kämpfe – das zieht sich durch bis heute. Wenn man mit Anfang 40 sagt, dass man sportlich aktiv ist und gerne etwas mit dem Handbike machen möchte – das ist ein ewiger Kampf. Was ich gelernt habe, ist, dass man sehr hartnäckig sein und lange aussitzen können muss.

 

Von klein an wolltest Du Pilot werden und hast schließlich die Pilotenausbildung absolviert, die an sich schon schwierig ist. Was gab es für besondere Herausforderungen, speziell für Dich aber auch allgemeiner Natur, während der Ausbildung?

 

Holger Schönenberg: Ich bin natürlich von Anfang der Exot gewesen. Schon vom Moment der Bewerbung an der Flugschule – du bist schließlich der einzige Rollstuhlfahrer, der da plötzlich herum rollt. Das hat sich durch die ganze Ausbildung gezogen – du bist immer der Exot und wirst immer begafft. Manche trauen sich und sprechen dich an, manche auch nicht. Es gibt auch durchaus Stimmen, die eher negativ waren. Man hat ein bestimmtes Bild von jemandem, der Pilot werden will. Ich habe das Getuschel schon gehört, nach dem Motto ‚Ist das denn überhaupt safe, wenn der Pilot im Rollstuhl sitzt?‘ Auch unter Kollegen wurde es nicht überall positiv aufgenommen, in den allermeisten Fällen aber schon. Das war die eine Herausforderung, damit umzugehen. Das wurde mir leicht gemacht, da ich sehr viel positives Feedback erhalten habe. Die Lehrer, die am Anfang auch skeptisch waren, haben mir dann hinterher erzählt, dass sie am Anfang nicht wussten, wie es funktionieren soll. Sie erzählten mir aber auch, dass es ihnen großen Spaß mit mir gemacht habe. Das war natürlich schön, dass man durch Leistung zeigen überzeugen kann.

Eine allgemeinere Herausforderung ist die umfangreiche Theorieprüfung beim Luftfahrtbundesamt. Diese Prüfung ist super aufwendig und lernintensiv. Man muss sehr viel lernen und man hat nicht viel Zeit und auch nur eine bestimmte Anzahl an Prüfungsversuchen. Aus unserem Kurs hat z. B. nur die Hälfte die Prüfung geschafft. Da habe ich natürlich auch – auch weil ich schon ein bisschen älter war – mitzukämpfen gehabt. Während die jüngeren Kollegen alle 19 Jahre alt sind und Input, Input, Input fordern, war ich abends müde. Das war auch eine Herausforderung.

 

,,Aber wer sagt, dass ich kein Pilot oder Arzt werden kann,

wenn ich im Rollstuhl sitze?"

~ Holger Schönenberg zeigt, dass genau das doch geht.

 

Du hast als Pilot auch gearbeitet. Wie sind denn die Reaktionen der Reisenden im Flugzeug ausgefallen?

 

Holger Schönenberg: Die Passagiere bekommen das gar nicht mit. Wenn die Passagiere kommen, sitzt du schon im Cockpit. Es ist so, dass es bei der gewerblichen Fliegerei immer zwei Piloten im Cockpit gibt und die meisten sagen dazu „Pilot und Copilot“ - so ist das aber nicht. Es ist so gedacht, dass beide Piloten fliegerisch völlig gleichwertig sind. Sie haben die gleiche Ausbildung, sie dürfen dasselbe, sie machen dasselbe und sie wechseln sich immer ab. Um mal ein Beispiel zu nennen: wenn ich Düsseldorf – Palma, Plama – Düsseldorf fliege, fliegt der eine hin und der andere zurück. Der jeweils andere arbeitet zu. Das nennt sich „Pilot flying und Pilot monitoring“. Das heißt, auch der First Officer ist genauso Pilot, nur die Unterscheidung zwischen vier und drei Streifen ist eine Frage der Erfahrung.

Wo es die Menschen natürlich mitbekommen haben, ist am Flughafen. Wenn du am Flughafen in Uniform durch das Terminal rollst, bist du erneut der Exot und alle glotzen dich an, nach dem Motto ‚Da ist gerade ein Alien vorbeigekommen.‘ (lacht). Irgendwann bin ich mit einem Kollegen nach einem Flug durch den Flughafen gerollt, die Menschen haben mich wieder angestarrt und der Kollege schaut mich an und meint: „Ich glaube, die haben alle Schiss, dass du in deren Flugzeug einsteigst.“ (lacht) Wir haben es mit viel Humor genommen.

 

Nach dem Abitur hast Du zunächst mit einem Medizinstudium begonnen und es jetzt auch wieder aufgenommen. Wie meisterst Du Herausforderungen wie z. B. das Krankenpflegepraktikum oder den Präpkurs?

 

Holger Schönenberg: Es gibt natürlich irgendwo Grenzen. Das Krankenpflegepraktikum war kein Problem, da es auch genug Tätigkeiten gibt, die ich auch machen kann. Die Bettpfanne kann ich mir auf den Schoss stellen, genauso das Tablett mit dem Essen. Das kommt bei den Patienten sogar gut an, wenn man in das Zimmer kommt und sagt: „Essen auf Rädern“. Es gibt genug Tätigkeiten, die man machen kann. Man ist nicht der, der die Wäsche am Patienten durchführt. Aber das ist auch eine Frage der Einstellung der Kollegen, ob die einen mitnehmen oder ein Drama daraus machen. Es ist mir in der gesamten Zeit nie untergekommen, dass jemand mir das Gefühl gegeben hätte, dass ich störe.

Präpkurs war natürlich auch ein Thema. Das ist so geendet, dass ich den Fuß und die Hand schwerpunktmäßig gepräpt habe, denn dort kam ich gut dran. Es war ein bisschen eng am Tisch. Ich habe relativ viel in einer Rücken unfreundlichen Haltung – so leicht vorgebeugt – gepräpt, aber das kennen kleinere Studierende auch.

Ich habe auch bewusst vor dem Studium verschiedene Praktika gemacht, nicht nur das Pflegepraktikum, sondern ich bin mit Ärzten mitgegangen, um herauszufinden, was geht und was nicht. Es ist unrealistisch, dass ich Chirurg werde oder Notarzt wäre auch ein bisschen blöd. Wobei ich früher tatsächlich auch im Rollstuhl auf dem Rettungswagen als dritter Mann dabei war. Also es geht alles. Es gibt aber Disziplinen, die natürlich naheliegend sind. Innere geht, ich hätte mir auch Urologie vorstellen können, wobei das auch wieder einen operativen Anteil hat. Aber es gibt mittlerweile sogar einen Neurochirurgen, der im Rollstuhl sitzt. Aber ich habe mir natürlich selbst Fragen gestellt. Was ist z. B., wenn ich reanimieren muss? Deswegen wollte ich auch keine Extrawurst – ich musste genauso wie alle anderen Studierenden reanimieren. Weil ich eine inkomplette Querschnittslähmung habe, geht genau das. 

 

Du hast als Patient und als Begleitung der Ärzte viele Erfahrungen mit diesen gemacht. Wie möchtest Du als Arzt sein, vielleicht auch durch Deine Erfahrungen mit Ärzten begründet?

 

Holger Schönenberg: Ich habe verschiedene Menschentypen bei Ärzten kennengelernt, auch als Patient. Das wird auch immer so sein. Es gibt Menschen, die seht technokratisch ihre Arbeit erledigen und tatsächlich nur die Diagnose sehen, nicht den Menschen – deswegen ist es auch so gut, dass es euer Programm gibt. Es gibt aber auch die einfühlsameren, die das ehrliche Gespräch suchen. Natürlich weiß ich, dass es ein idealisiertes Bild ist. Ich wäre gerne ein Arzt, der zuhört, der aufmerksam ist, usw. Ich weiß aber auch, dass der Alltag durch Stress und Druck anders aussieht. Dennoch gibt es auch dabei Unterschiede. Egal wie viel Stress man hat, gibt es immer noch Ärzte, die zuhören und welche die nicht zuhören – ich möchte natürlich zur ersten Gruppe gehören.

Rückenmarkshäute und das Rückenmark selbst sind nicht betroffen. Dadurch treten keine Symptome auf. Holger Schönenberg musste zweimal operiert werden, immer mit der Option, dass er nach der Operation querschnittsgelähmt sein könnte. Nach der zweiten Operation hatte er tatsächlich kein Gefühl mehr in den Beinen. Er ist inkomplett querschnittsgelähmt, sodass er kleine Strecken mit Festhalten gehen kann, im Allgemeinen ist er aber auf einen Rollstuhl angewiesen. Dennoch wird Holger Pilot, Vizeweltmeister im Para-Segeln und studiert Medizin.

 

Im Interview erzählt Holger von seiner Ärzteodyssee und seiner Zeit im Krankenhaus. Er hat uns aber vor allem durch die Berichte aus seiner Pilotenausbildung, seinen Segelerfahrungen und seiner unerschütterlichen positiven Grundhaltung beeindruckt. 

 

Hallo Holger, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit nimmst, um unsere Fragen zu beantworten. Mit 14 Jahren ist bei Dir ein Tumor an der Wirbelsäule diagnostiziert worden. Wie verlief Dein Diagnoseweg?

 

Holger Schönenberg: Es war ein bisschen schwierig. Ich hatte nicht direkt Schmerzen, sondern meine Beine wurden beim Laufen schnell müde. Dann habe ich bei den Familienspaziergängen angefangen zu schlurfen. Da haben meine Eltern immer gesagt: „Junge, jetzt heb doch mal die Füße!“ Das wurde aber immer schlimmer und irgendwann hat man gemerkt, dass etwas nicht stimmt und ich das nicht absichtlich mache. Meine Eltern sind mit mir zum Kinderarzt. Es begann eine Odyssee, weil alle Ärzte ratlos waren. Es wurden verschiedene Diagnostik gemacht und auch verschiedene Therapien, die ich heute überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann. Ich habe z. B. eine Infrarotbestrahlung des Rückens bekommen und ich weiß gar nicht, wie viele verschiedene Salben ich hatte, mit denen ich die Knie einreiben sollte. Ich habe Einlagen für die Schuhe bekommen; alles mögliche habe ich bekommen, aber es hat nichts geholfen. Insgesamt sind wir zwei Jahre unterwegs gewesen. Am Ende war es so, dass ich nur noch fünfzig Meter laufen konnte, bevor ich mich hinsetzen musste, weil meine Beine wie Pudding nachgegeben haben. Schließlich war es ein Heilpraktiker. Meine Großeltern haben gesagt, dass sie einen ganz alten Heilpraktiker kennen würden. Wir sind dahin gegangen, denn wir hatten nichts zu verlieren. Er hat eine Irisdiagnostik gemacht, eine ganz klassische Diagnostik wie es Heilpraktiker eben machen. Das werde ich niemals vergessen, obwohl ich selbst sehr schulmedizinisch unterwegs bin. Für mich war der Heilpraktiker schon uralt – ich war 14 und er war gefühlt 90. Er notierte etwas, riss von seinem Schreibblock einen Zettel, gab ihn meinen Großeltern und sagte: „Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber gehen Sie mal damit in eine Klinik.“ Auf diesem Zettel stand tatsächlich die Diagnose, die ich dort bekommen habe, nämlich ein Lipom bei Spina bifida im Lendenwirbelsäulenbereich. Ich meine, dass es wirklich verrückt ist, dass trotz Untersuchungen im Krankenhaus es nie entdeckt wurde. Es wurden Röntgenaufnahmen gemacht und im Nachhinein ist es mir völlig unerklärlich, wie das nicht entdeckt worden konnte. Dass das Lipom nicht entdeckt wurde, okay, aber bei einer geschlossenen Spina bifida hätte ich das schon erwartet. Durch MRT und CT hat man es also bestätigt und es war klar, dass ich operiert werden muss.

Du studierst wieder Medizin. Nach dem Abitur hattest Du in Münster angefangen, aber dann ist Dir das Segeln dazwischen gekommen.

 

Holger Schönenberg: (lacht) Ja genau! Das war tatsächlich so. Nach dem Abi bin ich nach Münster gegangen, weil ich zunächst kein Pilot werden konnte, was ich sehr schade fand. Wahrscheinlich bin ich auch durch die Prägung im Krankenhaus zur Medizin gekommen. Parallel habe ich zur Entspannung Segeln gelernt, was mich fasziniert hat, weil es das gleiche aerodynamische Prinzip wie beim Fliegen ist – nur das Segel ist senkrecht. Das ist immer mehr geworden. Irgendwann habe ich das Angebot bekommen, als Segellehrer zu arbeiten und am Ende habe ich nur noch im Wintersemester studiert, was einem Medizinstudium nicht so gut tut. Am Ende bin ich auch noch entdeckt und in die paralympische Segelmannschaft aufgenommen worden, sodass auch noch Training dazukam. So habe ich die professionelle Segelkarriere eingeschlagen.

 

Segeln verbinde ich mit schnellen Seitenwechseln und komplexen Manövern. Wie funktioniert das, wenn man nicht laufen kann?

 

Holger Schönenberg: Beim Para-Segeln gibt es verschiedene Bootsklassen, die sich je nach Schwere der Behinderung adaptieren lassen. Es gab damals zwei Bootsklassen:  „Sonar“ - das war das Crewboot mit drei Personen – und „Two-Point-Four“ - das ist im Prinzip eine Yacht, die geschrumpft ist und auf der eine Person sitzt und alles mit den Händen bedienen kann. Im Crewboot ist es so, dass es gewisse Punktzahlen gibt: jede Behinderung wird klassifiziert und mit Punkten versehen. Je schwerer Du behindert bist, desto weniger Punkte bringst du. Es gibt im Boot eine

Gesamtzahl von Punkten, die nicht überschritten werden darf. Beim Crewboot ist es so, dass die Personen verteilt werden. Es gibt einen Steuermann, eine Person, die das Großsegel bedient und einen, der das Vorsegel bedient. Dadurch sind die Positionen sehr stationär und man muss gar nicht viel hin und her, wobei ich das durch die inkomplette Querschnittslähmung durchaus kann. Ich segle auch ganz normale Boote, das sieht manchmal nicht ganz so elegant aus – aber es geht.

 

Du bist Pilot, segelst und studierst Medizin. Kennst Du das Wort „Grenze“?

 

Holger Schönenberg: Ja, es gibt Grenzen. Ich bin kein Unrealist. Ich würde z. B. nie auf die Idee kommen, zu sagen, dass ich Polizist werden will. Das ist ein Beruf, den ich nicht machen kann – das will ich auch gar nicht erst probieren. Aber wer sagt, dass ich kein Pilot oder Arzt werden kann, wenn ich im Rollstuhl sitze? Da bin ich immer derjenige, der die Grenzen verschiebt. Es ist unrealistisch, dass ich Allgemeinchirurg werde und Hüften operiere. Damit tue ich mir keinen Gefallen, damit tue ich den Kollegen keinen Gefallen und den Patienten tue ich auch keinen Gefallen – deswegen würde ich das nicht fordern, da es keine verschiebbare Grenze ist. Freunde von mir sagen immer: „Du kannst tauchen, du kannst segeln, du kannst reiten, du kannst fliegen – jetzt fehlt nur noch das Weltall. Wie wäre es mit Astronaut?“ (lacht).

 

Du hälst auch Vorträge und motivierst mit Deiner Geschichte andere Menschen. Was ist Dein ultimativer Motivationstipp?

 

Holger Schönenberg: Es gibt nicht den ultimativen Tipp. Ich bin auch nur ein Mensch und auch wenn ich viel erreicht habe, habe ich Phasen, in denen ich denke. „Das schaffe ich nie.“ Es ist vielleicht eine Plattitüde, aber für mich gilt: immer irgendwie weitermachen, auch wenn es nur ein Millimeter ist. Dieses berühmte ‚der erste Schritt ist der schwerste‘ kennt man. Aber das ist tatsächlich das, was bei mir gilt. Nicht dir von anderen Menschen Grenzen aufzeigen lassen, deine eigenen Grenzen auch akzeptieren, die – je nachdem, was es ist – verschieben, aber immer kontinuierlich weitermachen. Ich mache es z. B. so, dass ich das Buch aufschlage, obwohl ich furchtbar müde bin, lese drei Sätze und schlafe ein. Aber ich habe mich diszipliniert und habe es aufgeschlagen. Der Tipp ist also: immer weitermachen. 

 

Wie geht es für Dich weiterhin? Das meine ich auch ganz wörtlich.

 

Holger Schönenberg: Dieser inkomplette Querschnitt ist über 25 Jahre hinweg stabil, was sehr positiv ist, denn das heißt auch, dass er sich nicht verschlechtert. Ich halte mich fit, gehe ins Fitnessstudio, ernähre mich gesund, weil mir auch klar ist, dass es mit dem Alter schwieriger wird. Medizinisch ist es im Moment nicht so, dass man etwas verändern könnte. Wenn jetzt jemand sagt: „Mit einer Chance von 60 zu 40 zum Positiven können wir mit einer Operation wieder dafür sorgen, dass du wieder laufen kannst. Die 40 Prozent Risiko sind aber, dass du hinterher vollständig querschnittsgelähmt bist.“ Da wäre für mich ganz klar, es nicht zu machen, weil ich ein gutes Leben habe – ich kann nur nicht laufen.

Ansonsten habe ich zwei Firmen mit meinem besten Freund gegründet, was viel Arbeit macht, sodass das Studium mal wieder zu kurz kommt. Ich bin auch da Realist, wenn ich fünf, sechs, vielleicht sieben Jahre brauche, um das Studium abzuschließen, werde ich keine große klinische Karriere mehr hinlegen – habe ich aber auch nicht vor. Mich interessiert die Materie, ich finde es schön, Menschen auf eine medizinische Frage eine adäquate Antwort zu geben.

 

Viel Erfolg weiterhin für das Studium und alle weiteren Projekte!

 

Bildquelle: privat

Das Interview führt Katharina Tscheu.