Hallo Martin, herzlichen Dank, dass Du unsere Fragen beantwortest. Du bist schon mit einem Handicap auf die Welt gekommen. Ohne Dich daran erinnern zu können, wirst Du also schon früh Kontakt zu ÄrztInnen gehabt haben. Wie hat Deine Familie die erste Zeit Deines Lebens erlebt?
Martin Fleig: Nach der Geburt musste ich sofort in den Operationssaal. Meine Behinderung nennt sich Spina bifida und Hydrocephalus, also offener Rücken und Wasserkopf. Der offene Rücken an der Wirbelsäule musste sofort verschlossen werden. Ich glaube, das war sogar die größte bzw. aufwendigste Operation meines gesamten Lebens. Das war wirklich direkt nach der Geburt, sonst hätte ich das auch gar nicht überlebt. Meine Eltern konnten das vorher nicht so direkt wissen. Ich bin Jahrgang 1989, da war es noch nicht möglich, vorher dazu etwas zu sagen, soweit ich weiß. Aber genau kann ich das gar nicht sagen; ich denke aber, dass sie sich nicht groß darauf vorbereiten konnten. Meine Eltern waren natürlich verunsichert, was genau als nächstes passieren wird. Die meiste Zeit verbrachte ich zusammen mit meiner Mutter im Krankenhaus. Ich glaube, es war eine sehr stressige und ungewisse Zeit für meine Familie.
Was sind denn Deine ersten Erinnerungen an ÄrztInnen?
Martin Fleig: Meine Erinnerungen an Ärzte sind mit großen Schmerzen und viel weinen verbunden.
Wann und wie ist Dir später bewusst geworden, dass Du anders bist als andere?
Martin Fleig: Ich schätze, dass das im Laufe der Pubertät passiert ist. Genau datieren kann ich es aber gar nicht.
Du bist sportlich aktiv und arbeitest. An welchen Stellen gibt es in Deinem Alltag dann doch Einschränkungen?
Martin Fleig: Es ist ja so, dass ich mit der Behinderung auf die Welt gekommen bin. Im Vergleich zu jemanden, der einen Unfall hatte, ist es natürlich ein Vorteil. Da ich damit aufgewachsen bin, konnte ich mich damit arrangieren. Ich meine, das musst du nach einem Unfall auch. Ich denke aber, dass der Lerneffekt in der Kindheit größer ist. Gerade wenn man das große Glück wie ich hat und in der Familie jeden Tag große Unterstützung erfährt, ist das schon gut machbar. Klar gibt es auch hin und wieder Situationen, gerade in der Pubertät, die dann schwieriger sind oder die auch Rückschläge darstellen, aber ich bin damit ziemlich gut klargekommen.
Zeitliche Einschränkungen gibt es aufgrund der Doppelbelastung ganz klar in Sachen Freizeit. Das ist gerade auch eine Belastung für die Beziehung zu meiner Verlobten. Aber auch körperlich ist es nicht ganz einfach, da der Alltag natürlich engmaschig durchgeplant ist und somit auch organisiert sein muss. Das ist nicht immer einfach und schön, weil in der Arbeit oft viel liegen bleibt, während ich mit meinem Sport weg bin. Aber mein Arbeitgeber unterstützt mich sehr, sehr gut und darüber bin einfach dankbar. Ohne diese Unterstützung wäre ein Trainingsalltag nicht möglich.
Wie bist Du überhaupt zum Leistungssport gekommen?
Martin Fleig: Als kleiner Junge bin ich einmal pro Woche in einer Behindertenschule zum Schwimmkurs gegangen. Dort hat damals der Förderverein des nordischen Skisports Nachwuchssichtungen gemacht. Sprich, dort an der Schule wurden Einladungen zu Sichtungslehrgängen ausgelegt oder – wie in meinem Fall – es waren tatsächlich Personen vom Förderverein in der Schule auf der Suche nach Nachwuchs. Damals wurde mein Schwimmlehrer angesprochen, ob er nicht eine oder einen aus seiner Gruppe hat, die / der vielleicht Interesse an einem Schnupperlehrgang im nordischen Skisport hätte. So kam er auf mich bzw. meine Mutter damals zu. Da war ich acht oder neun. Damals hatte ich nicht so großen Bock auf das Ganze. Das war mal schön, aber am Anfang musste meine Mutter bzw. meine Eltern mich da hinführen, weil sie gesehen haben, dass ich trotz meiner Behinderung noch sportlich aktiv sein kann. Die Trainer vor Ort haben gesehen, dass das gut klappt und mich meine Behinderung nicht so stark einschränkt. So wurde ich wieder eingeladen und war dann ein- bis zweimal pro Winter bei Lehrgängen dabei. Mit 15 oder 16 Jahren hatte ich zum ersten Mal ein Biathlongewehr, also ein Luftgewehr, in der Hand.
Wo liegen die Unterschiede zwischen dem in Deutschland sehr populären Biathlon der nicht-gehandicapten SportlerInnen und dem Para-Biathlon?
Martin Fleig: Zunächst sind die Renndistanzen anders als bei uns und auch die Streckenprofile sind unterschiedlich. Bei uns ist z. B. das „Einzel“ 15km lang und nicht 20km. Bei den anderen Disziplinen gibt es immer wieder Testevents, z. B. für die Verfolgung oder so ein „Supersprint“ wurde schon getestet oder auch bei der Staffel. Das hat sich bislang aber nicht richtig durchgesetzt. Als feste Größe gibt es bei uns im Weltcup den Sprint, die Mitteldistanz und den sogenannten Einzel. Allerdings gibt es seit diesem Sommer, also für die Saison 2020 / 21, die Regelung, dass die Distanzen für die weiblichen und die männlichen Schlittenfahrer dieselben sind. Sprich: die Männer laufen in der Kurzdistanz nicht mehr 7,5km, sondern 6km, bei der Mitteldistanz nicht mehr 12,5km, sondern 10km und beim Einzeln nicht mehr 15km, sondern 12,5km wie die Damen. Mir ist die Änderung so erklärt worden, dass das Schießen mehr in den Vordergrund gerückt werden soll und die Wettkämpfe weniger lauflastig sein sollen.
Der nächste Unterschied liegt beim Schießen. Die Biathleten aus dem Fernsehen schießen mit einem Kleinkalibergewehr und schießen aus 50m Entfernung auf die Scheiben, stehend und liegend. Dabei sind die Scheiben liegend 4.5cm und stehend 11.5cm groß im Durchmesser. Wir im Para-Biathlon schießen mit einem Luftgewehr auf 10m Entfernung, natürlich auch nur im Liegen. Die Scheiben bei uns haben einen Durchmesser von 1.3cm.
Ganz praktisch gefragt: warum schießt ihr mit einem Luftgewehr?
Martin Fleig: Das ist eine richtig gute Frage, die müsste ich an das IPC, also das internationale paralympische Komitee, weitergeben (lacht). Das kann ich Dir gar nicht genau beantworten. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Sicherheitsaspekt ist. Jetzt nicht, weil wir blöd sind und nicht mit Waffen umgehen können. Beim Biathlon der nicht-behinderten Sportler wird das Gewehr auf dem Rücken getragen. Bei uns bleibt die Waffe aber am Schießstand und wird von einer zweiten Person gereicht und angefasst. Ich denke, dass das der Knackpunkt ist. Damit tragen zwei Personen die Verantwortung und normalerweise sollte aber nur der Athlet, der auch einen Waffenschein besitzt, die Verantwortung übernehmen. Das geht bei uns leider nicht.
Du hattest gerade eben schon kurz die Staffel angesprochen. Wie ist die bei euch aufgestellt?
Martin Fleig: Wir haben ein Prozentsystem, je nach Schwere der Behinderung. In der Staffel ist festgelegt, wie viel Prozent diese Staffel haben darf. Ich habe selbst noch keine Biathlonstaffel mitgemacht, deswegen kann ich auch gar nicht viel mehr dazu sagen. Für uns war das noch gar kein Thema. Ich glaube, dass auch erst zweimal die Staffel getestet wurde. Bislang haben wir uns noch nicht für gemeldet.
Die Strecke absolvierst Du sitzend. Für Dich ist ein spezieller Schlitten angefertigt worden. Worauf hast Du dabei am meisten geachtet?
Martin Fleig: Meinen Schlitten hat ein Orthopädietechnikhaus in Bad Krozingen gemacht. Ich sage immer, der Schlitten muss so passen wie ein guter Schuh. Also war es mir wichtig, dass er fest sitzt und nahezu keine Luft zwischen mir und dem Schlitten ist.
Beim Wettkampf habe ich neben dem Schlitten meist zehn oder zwölf Paar ganz normale Skier dabei, die auch eine ganz normale Skiaufnahme haben. Man kann die Ski also auch mit einem Skischuh nutzen. Es hat den Vorteil, dass wir nicht selbst unsere Ski testen müssen, sondern das können auch die Betreuer machen.
Kommen wir vom Wettkampf zum Training. Wie sieht bei Dir das Training aus?
Martin Fleig: Mein Trainingsplan variiert stark von Woche zu Woche. Aber eine normale Woche sieht so aus: montags und donnerstags ist Krafttraining am Olympiastützpunkt in Freiburg. Zusätzlich bin ich dienstags und donnerstags mit dem Handbike oder dem Skiroller unterwegs, im Sommer gehe ich auch Schwimmen. Mittwochs und Freitags ist Biathlontraining auf dem Notschrei. Am Samstag ist meistens eine ruhige bis viereinhalb Stunden lange Einheit mit dem Handbike und Skiroller auf dem Plan. So komme ich insgesamt auf bis zu 18 Stunden Training pro Woche.
Zusätzlich gibt es noch Trainingslager mit der Mannschaft. Ich persönlich finde es cool, mit der Mannschaft zu trainieren, da ich in meinem Trainingsalltag zuhause viel alleine trainiere. Man sieht sich am Olympiastützpunkt in Freiburg hin und wieder, weil auch die meisten aus der Umgebung kommen. Im Trainingslager trifft man alle wieder und man kann sich super austauschen. Beim Trainingslager in Livigno, das liegt auf ca. 1800m, haben wir z. B. versucht, viele Grundlagen zu legen, Sauerstoff zu tanken und die Ausdauer zu verbessern. Natürlich werden aber auch kleinere Spitzen gesetzt.
Was motiviert Dich und treibt Dich immer wieder an, im Training und im Wettkampf?
Martin Fleig: Puh, ich denke, es ist der Spaß am Sport. Das Wissen, dass man sich unbeschreiblich fühlt, wenn man ein Ziel, was man sich vorgenommen hat, erreicht. Seit zwei Jahren ist aber auch meine Freundin ein großer Teil meiner täglichen Motivation.
Du bist sowohl im Biathlon als auch im Langlauf erfolgreich, bei nicht-gehandicapten SportlerInnen ist eine derartige
Kombination eher selten. Wie erklärst Du Dir, dass zahlreiche Para-Sportler in beiden Disziplinen antreten? Welche ist Deine Lieblingsdisziplin?
Martin Fleig: Ich denke, dass das mit der fehlenden Leistungsdichte im Para-Sport zu tun hat. Hinzu kommt, dass nicht-behinderte Sportler für eine Sportart viel mehr trainieren, als wir das können. Für nicht-behinderte Sportler ist es eher erfolgversprechend, wenn man sich auf eine Sportart spezialisiert.
Beim Langlauf finde ich die Mittelstrecke, also 7,5km, ganz nett. Das ist nicht zu lang und nicht zu kurz. Ich bin eher der Typ Langstrecke. Auch beim Biathlon, wenn man da die Ergebnisse anschaut, ist die Langstrecke meine Lieblingsstrecke.
2018 bist Du Paralympicssieger über die 15km im Biathlon geworden. Wie hast Du die Spiele in Südkorea erlebt, aber auch Dein persönliches Highlight?
Martin Fleig: Natürlich ist der Paralympicssieg mein absolutes Highlight! Die Spiele waren ein unvergessliches Erlebnis. Die Menschen dort sind sehr höflich und es war gut organisiert. Die Wettkämpfe waren fair und es war insgesamt einfach eine tolle Atmosphäre.
Zum Abschluss noch ein Blick voraus: was sind Deine nächsten Ziele?
Martin Fleig: Also wenn Corona uns keinen Strich durch die Rechnung macht, dann steht im März 2021 eine Weltmeisterschaft auf dem Plan (Anmerkung der Redaktion: diese wurde auf 2022 verschoben). Dort möchte ich gerne meine zehnte WM-Medaille gewinnen. Wenn möglich natürlich Gold (lacht).
Gibt es auch schon eine Planung in Richtung Peking 2022?
Martin Fleig: Das ist schon noch ziemlich weit weg, wobei man schon darauf hinarbeitet. Ich kann da immer nur in einer Momentaufnahme sprechen und sagen, dass es im Moment noch auf dem Plan ist. Ich will dabei sein. Man muss aber auch schauen, ob auch im privaten Umfeld alles noch zusammenläuft und das Training weiterhin gewährleistet werden kann. Wenn ich aber die Krise bekomme oder keinen Spaß mehr am Sport habe oder die Ergebnisse auch nicht mehr stimmen, dann weiß ich noch nicht. Seit den Spielen 2018 taucht die Frage immer wieder auf, wie lange ich noch sportlich aktiv sei, da ich schon alles gewonnen habe. Das ist eine schwierige Frage. Ich habe noch Spaß am Sport und solange der Spaß nicht zu kurz kommt, bleibe ich dabei. Aber klar, der Leistungssport ist auch von den Ergebnissen abhängig. Aus meiner Sicht habe ich sportlich schon alles erreicht, was man erreichen kann, sodass ich nicht mehr den brutalen Druck habe wie ihn ein jüngerer Sportler hat. Ich gehe mit mehr Fun an die Aufgaben und bin vielleicht auch entspannter. Das ist so ein Thema, bei dem ich bestimmt alle vier Wochen etwas Neues erzählen könnte, oder zumindest jedes halbes Jahr (lacht). Wenn es schlecht lief, sage ich eher, dass ich nicht mehr weitermache oder wenn es gut lief, dann sage ich wieder, dass ich doch noch weitermache.
Wir wünschen Dir, dass es gut läuft und Du bei den Weltmeisterschaften und den Spielen in Peking erfolgreich sein wirst.
Das Interview führte Katharina Tscheu.
Genau ins Schwarze getroffen hat Martin Fleig in seinem Leben schon oft, besonders häufig gelingt ihm das beim Biathlon. Mit zwei Langlaufski und zwei Langlaufstöcken erobert er sich die Strecken, allerdings sitzenderweise. Martin Fleig kam mit einer Spina bifida aperta (im Sprachgebrauch als „offener Rücken“ bekannt) auf die Welt.
Während der embryonalen Entwicklung kommt es bei der Entstehung des Rückenmarks zu Störungen. Es wird vermutet, dass es dafür entweder eine Veranlagung gibt oder Umweltfaktoren verantwortlich sind. Unmittelbar nach der Geburt ist es daher notwendig, dass der Rücken verschlossen wird. Allerdings sorgt diese Operation lediglich dafür, dass keine Infektionen auftreten. Die unvermeidbaren Lähmungserscheinungen können hingegen nicht aufgehoben werden. Diese sind abhängig davon, in welcher Höhe die Fehlbildung lokalisiert ist. Je tiefer sich die betroffene Region befindet, desto wahrscheinlicher ist es, dass Betroffene mit Hilfsmitteln laufen lernen können. Mittlerweile ist eine vorgeburtliche Diagnostik möglich, sogar ein minmal-invasiver Eingriff vor der Geburt ist möglich geworden.
Häufig tritt zusammen mit einer Spina bifida auch ein Hydrocephalus, umgangssprachlich Wasserkopf, auf. Dabei sind Anteile des Hirnstamm und das Kleinhirn verlagert, sodass sich Hirnwasser aufstauen kann. Dadurch werden die Hirnkammern erweitert und ein Hydrocephalus entsteht. Der angestaute Liquor, also das Nervenwasser, muss operativ abgeleitet werden, um den Druck auf das Hirngewebe zu reduzieren.
2018 hat Martin Fleig nicht nur eine Goldmedaille über 15km im Para-Biathlon gewonnen, sondern auch noch einen Fluch besiegt: nach 2010 war er der erste deutsche Mann, der bei den Paralympics wieder eine Medaille gewinnen konnte.
Im Gespräch erzählt er uns von seinem Trainingsalltag und bringt uns Para-Biathlon näher.