Diagnose: Ziele setzen - Ziele erreichen

Hornist Matthias Berg

Ein Doppelstudium zu koordinieren, braucht viel organisatorisches Geschick. Parallel dazu noch in zwei Nationalmannschaften erfolgreich sein, klingt zunächst unvorstellbar. Matthias Berg studierte Jura und Horn parallel und gewann außerdem mehr als zwei Dutzend Medaillen bei den paralympischen Sommer- und Winterspielen. Paralympicsteilnehmer ist er deshalb, da er contergangeschädigt zur Welt kam. Das Medikament Contergan wurde in den 1950er-Jahren als Schlaf- und Beruhigungsmittel verkauft. Es half aber auch gegen Schwangerschaftsübelkeit, sodass zahlreiche schwangere Frauen dieses Präparat nutzten. Auffällig war, dass in dieser Zeit zahlreiche Neugeborene auf die Welt kamen, die Dysmelien, also Fehlbildungen, aufwiesen. Der enthaltene Wirkstoff in Contergan (Thalidomid) hemmt einen bestimmten Wachstumsfaktor, sodass im Embryo weniger Gefäße für die Extremitäten angelegt werden. Dies führt dazu, dass diese gar nicht oder verkürzt wachsen.  Erst im November 1961 wurde der Zusammenhang zwischen den Fehlbildungen und Contergan öffentlich gemacht – die Marktrücknahme jährt sich in diesem Jahr zum 60. Mal.

 

Matthias Berg ist einer der bekanntesten Vertreter von rund 5000 Kindern, mittlerweile Erwachsenen, die

contergangeschädigt zur Welt kamen. Bekannt ist er dabei aber nicht nur als Paralympicssieger, sondern auch als renommierter Hornist, der auf den Bühnen der Welt zuhause ist. Wir sprachen mit ihm nicht nur über seine sportlichen Erfolge, sondern lassen uns vom sympathischen Coach und Redner Tipps für besseres Zeitmanagement geben. Darüber hinaus blickt der ZDF-Experte auf die bevorstehenden Spiele in Tokio voraus.

 

Hallo Matthias, herzlichen Dank, dass wir uns heute austauschen können. 27 Medaillen, 11 Paralympicssiege und das bei Sommer- und Winterspielen. Du bist im Ski-Alpin und in der Leichtathletik angetreten. Wie kam es denn dazu?


Matthias Berg: Es hat sich so entwickelt. Ich bin schon immer sportlich gewesen – mein Vater ist Sport- und Musiklehrer, sodass wir in der Familie immer viel Sport machten. Die ersten zehn Jahre meines Lebens verbrachte ich in Detmold. Dort war ich im Schulsport und im Behindertensportverein aktiv, sodass ich schwimmen, aber mit sechs Jahren auch Ski fahren lernte. Beim Schulsport machte ich

immer alles mit. Kurze Arme, drei Finger an jeder Seite: Reck und Barren sind nicht so meine Disziplinen… (lacht). Aber selbst wenn so etwas anstand, war ich immer mit dabei. In der Zeit beschäftigte ich mich eben mit einem Ball oder schaute zu. In der gesamten Schulzeit bekam ich auch nie einen Bonus. Mit zehn Jahren zogen wir ins Schwabenland um. Einige Jahre brauchte ich, um dort gut anzukommen, da ich dort dreifach behindert war: rote Haare, kurze Arme und kein Schwäbisch… Als ich 13 Jahre alt war, erhielt ich vom württembergischen Versehrtensportverband einen Anruf. Der dortige Jugendwart war sehr aktiv, um neue Mitglieder zu finden. Er hatte ein Auge und einen Arm weniger, eine Nachkriegsverletzung, und erhatte selbst ein Contergankind. Wie auch immer hatte er erfahren, dass in der Nähe von Stuttgart eine Familie mit einem Contergankind zuhause ist. Heute würde man sagen: ‚Oh, Datenschutz!‘, ich aber bin heilfroh, dass er uns anrief… (lacht) Er erzählte uns von einer Skifreizeit für behinderte Kinder und deren Familien – ich war natürlich dabei. Am Ende der Freizeit gab es ein Abschlussrennen – einen Geschicklichkeitsriesenslalom. Ich fand das total super! Daraufhin bin ich zu den württembergischen Meisterschaften eingeladen worden.  Erst einmal fährst Du gnadenlos hinterher, aber es hat mir Spaß gemacht. Dort wurde ich gefragt, was ich im Sommer mache würde – bis dahin nur Schulsport und Versehrtensport. So kam ich zu kleinen Leichtathletikwettbewerben – die suchten Kanonenfutter (lacht). Beim Laufen und Springen war ich von vorneherein solides Mittelfeld. Ein Jahr später meldete ich mich wieder an, aber ich fing an ein bisschen zu trainieren. Ziemlich schnell wurde ich schneller und war auf dem Treppchen. Mit 15, 16 Jahren war

Matthias Berg: 1981 habe ich Abitur gemacht und dann mit dem Musik- und Jurastudium begonnen. Mit sechs Jahren fing ich an Horn zu spielen. Viermal war ich bei „Jugend musiziert“ und im Abitur gewann ich den Bundeswettbewerb. So fing es mit den Konzerten an. Wenn ich aber oben dabeibleiben wollte, muss ich Horn studieren, sagte ich mir. Ich hatte abernicht den Mut, nur auf Musik zu setzen. Mein Patenonkel war Rechtsanwalt – gestritten wird schließlich immer – und brachte mich zur Juristerei. So machte ich vier Sachen gleichzeitig. Alles lief anständig, doch lernte ich auch das Scheitern, als ich durch eine wichtige Jura-Prüfung fiel. Ich entschloss mich jedoch dazu, nichts aufzugeben und sprach mit vielen Menschen darüber. Wo will ich überhaupt hin? Dabei ist mir aufgefallen, dass ich für Jura gar kein richtiges Ziel hatte. Meine Zeitdiebe, wie etwa die Aufschieberitis und das Nicht-bei-der-Sache-sein ging ich an. Ich stellte mich komplett neu auf und schloss dann beide Studiengänge erfolgreich ab. Nach zwei Jahren im Beruf stellte ich fest, dass ich das nur mit voller Leidenschaft machen kann, wenn ich den Leistungssport aufgebe. 1994 in Lilehammer waren daher meine letzten Spiele.

Im Medizinstudium kennt man einen vollen Terminkalender. Bei so vielen Dingen gleichzeitig, frage ich mich aber, wie Du das geschafft hast. Hast Du den einen ultimativen Tipp für das perfekte Zeitmanagement?

 

Matthias Berg: Nein, den gibt es nicht. Es gibt nur das persönliche und situativ Ultimative. Aber es gibt ein paar Dinge, die oft als wirksam empfunden werden. Zum einen gibt es die „Fokuszeit“. Eine Zeit am Tag, in der ohne jede Ablenkung, 60 bis 90 Minuten konzentriert gearbeitet wird. Dabei gibt es kein Handy am Platz, keine E-Mail blinkt, kein Kollege stört. Für 60 bis 90 Minuten werden konsequent und konzentriert zwei bis drei Dinge erledigt, die wichtig sind. Zum anderen kann man sich jeden Abend zehn Minuten hinsetzen und einen Plan für den nächsten Tag machen. Stunde für Stunde durchgehen: was ist dran?, was ist wichtig? Und das schriftlich! Der Erfolg lebt schriftlich. Was Du nicht aufgeschrieben hast, findet nicht mehr statt. Dabei aber auch reflektieren, was heute gut war.

Diese beiden Dinge sind in der Kombination kaum verbreitet, aber in der Kombination unfassbar wirkungsvoll. Das reduziert Stress und bringt Ruhe in den Tag. Nun gibt es viele Personen, die fragen, woher sie die Zeit denn nehmen sollen. Die musst Du Dir nehmen! Wenn Du das nicht machst, wirst Du nicht erfolgreich sein.

 

An einem Beispiel zeigt Matthias Berg auf, wie Zeitmanagement mit diesen beiden Methoden erfolgreich gelingen kann (3:16min): 

Du hast so viel erlebt, so viel von der Welt gesehen. Was waren Deine Ziele?

 

Matthias Berg: Es gibt die psychologische Gefahr, nach dem Erreichen eines großen Zieles in ein tiefes Loch zu fallen – das kenne ich überhaupt nicht. Ich habe nie nur ein Ziel, das heißt aber auch, dass ich nicht alle erreiche. Dann habe ich aber auch einen Plan B. Wenn das Eine nicht funktioniert, habe ich daher noch genügend andere Ziele und Dinge, die ich erreichen möchte.

Beim Sport sagte ich mir, dass ich so gut vorbereitet sein möchte, dass es für das Treppchen reicht, jedenfalls beim Skifahren. In der Leichtathletik wollte ich so gut vorbereitet sein, dass das oberste mein Treppchen ist, denn da wusste ich, dass ich eine entsprechende Begabung und weniger starke Konkurrenz habe. Ich habe 39 deutsche Meistertitel… Noch jetzt halte ich zwei Weltrekorde im Weitsprung und im Hochsprung. Zwei Drittel der 100m-Rennen gewann ich. Beruflich habe ich weniger mit Zielen, also Karriere-Zielen, gearbeitet, außer, dass ich das, was ich im Augenblick gemacht habe, so gut wie möglich machen wollte. Schon während des Studiums arbeitete ich beim Anwalt und hätte dort auch bleiben können, wofür ich aber den Sport und die Musik hätte aufgeben müssen. Ich hatte dann aber die Möglichkeit in der Landesverwaltung zu arbeiten. Die Chance nutzte ich, weil ich den Sport und die Musik z. B. mittels Sonderurlaub für Konzertreisen und Trainingslager weiterführen konnte. Zu dieser Zeit stellte das Land auch über Assessmentcenter ein – das war mein Glück, weil ich nicht das übermäßige Examen habe (lacht). Ein Jahr lang war ich einer der Referenten von Erwin Teufel – das waren Tage von morgens um acht bis abends um zwölf, fünf- bis sechsmal die Woche: eine anstrengende, aber sehr spannende Zeit.

 

Mittlerweile hast Du das Buch „Mach was draus“ geschrieben und bist als Coach und Redner unterwegs. Warum kam es zu dieser beruflichen Weiterentwicklung?

 

Matthias Berg: Seit sechs Jahren mache ich eigentlich nur noch Coaching und Seminare – zwangsweise. Die letzten vier Berufsjahre als Stellvertreter des Landrats im Landkreis Esslingen hatte ich Netzhautablösungen, wurde etliche Male an den Augen operiert und gelasert. Ein Auge drohte gar zu erblinden. Dann musste ich die Reißleine ziehen und den Job aufgeben. Ich war daher frühpensionierter Beamter und bekomme knapp 60 Prozent meines Gehaltes. Nun habe ich aber vier Kinder und ein Häuschen abzubezahlen. Entweder hätte meine Frau wieder arbeiten gehen müssen oder ich mache etwas anderes. Ich kam darauf, dass ich seit 25 Jahren Vorträge halte, verschiedene Seminare gebe und Coachingausbildungen machte. Ich ließ mich weiter zertifizieren und legte weitere Prüfungen ab. Auch da möchte ich der beste sein, der ich sein kann. Es macht mir sehr viel Spaß. Manchmal sage ich aus Spaß, dass wenn ich geahnt hätte, wie viel Spaß das macht, ich das schon viel früher gemacht hätte… Aber so hätte mir die eigene praktische Führungserfahrung gefehlt, sodass ich weiß, was gut funktioniert und was eben auch nicht.

 

Ich finde, dass man Dir wunderbar zuhören kann, weshalb sich in diesem Artikel auch zahlreiche Audiospuren wiederfinden. Dir hören aber nicht nur Führungskräfte von namhaften Firmen zu, sondern Du besuchst auch Schulklassen. Was erlebst Du dabei?

 

Matthias Berg: Mit 22 war ich zum ersten Mal in einer Schulklasse. Als Musiker hatte ich einen guten Freund, der in einer Realschule unterrichtete. Im Deutschunterricht thematisierte er gerade gesellschaftliche Gruppen und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, die Fragen der SchülerInnen zu beantworten. Bei mir sieht man die Behinderung, sodass ich nicht viel erklären muss. Dann erzählte ich einfach aus meinem Leben. Daraus ergab sich, dass ich immer noch in Schulklassen gehe. Zunächst erzähle ich von dem, was mir passiert ist: dass ich auch ausgegrenzt wurde. Dann gebe ich die Perspektive aber an die Kinder weiter. Von ihnen möchte ich wissen, wie sie mit Kindern umgehen, die anders sind. Sie fangen an zu überlegen, ob ihr Umgang untereinander fair ist. Dabei öffnet sich ganz oft eine Tür in den Köpfen. Aber die Kinder stellen vor allem Fragen wie ‚Wie steckst Du Dein Hemd rein?‘, ‚Wie gehst Du auf Klo?‘, ‚Wie wäscht Du Dir die Haare?‘ - Führungskräfte fragen das nicht (lacht). Das finde ich super! Die Lehrer, die hinten sitzen, bekommen immer einen roten Kopf. Egal was die Kinder fragen, sie bekommen immer eine ehrliche Antwort und ich erkläre ihnen das.

Zum Abschluss stelle ich ihnen immer eine Aufgabe, die von meinem guten Freund Rainer Schmidt (hier geht es zum Interview mit ihm) geklaut ist. Ich stelle den Kindern dar, dass ich Zeit für sie investiert habe: ich bin eineinhalb Stunden zu euch gefahren, ich fahre eineinhalb Stunden zurück, bin jetzt eineinhalb Stunden bei euch und habe die Stunden vorbereitet - so zähle ich die Stunden zusammen, sodass ich darauf kommen, dass die Kinder zwei Wochen lang jeden Tag eine Viertelstunde investieren sollen. Diese fünfzehn Minuten sollen sie für ihr ungeliebtetes Fach nutzen. Systematisch sollen sie dieses Fach aufarbeiten und dann die nächste Klassenarbeit abwarten – die Rückmeldungen dazu sind fantastisch.

 

Wie durchschlagend der Erfolg mit dieser Methode sein kann und wie toll die Rückmeldungen sind, erzählt Matthias Berg selbst (2:30min):

Du hast Rainer Schmidt angesprochen, mit ihm sprach ich auch schon. Er erzählte, dass er ein großes medizinisches Rätsel war, als er auf die Welt gekommen ist. Für seine Mutter war es aber wichtig, dass sie wusste, dass sie keine Contergan-Tablette genommen hat und damit keine „Schuld“ hat. Wie war und ist es für Deine Mutter?

 

Matthias Berg: Im großen Unterschied zu heute gab es damals keine Ultraschalldiagnostik vor der Geburt – wir waren echte Überraschungspakete. Ich wurde am 3. Oktober 1961 geboren, verkauft wurde Contergan vom 1. Oktober 1957 bis Ende November 1961. Bei mir wusste auch niemand, woher die kurzen Arme kamen. Erst einige Wochen später war in der „Welt am Sonntag“ ein Bericht und ein Bild eines Contergankindes zu sehen – da war es dann klar.

Für meine Eltern war es ein großer Schock. Mein älterer Bruder war zweieinhalb Jahre zuvor ganz normal zu Welt gekommen. Und was wünscht Du Dir als Eltern? Ein gesundes und nicht-behindertes Kind! Dann kommt noch die Sondersituation Geburt dazu. Meine Mutter fiel in eine Schockstarre. Sie nahm mich zunächst nicht an, weil sie es nicht konnte. Meine Mutter ist sehr gläubig. Am Anfang haderte sie. Sie fragte sich, wie Gott es zulassen kann, ein Kind in die Welt zu setzen, das die Welt nicht bestehen kann. Es war schlicht unvorstellbar, dass ich das Leben bestehen kann. Der Chefarzt sagte dann zu ihr, dass der Schwebezustand – das Kind nicht ablehnen, aber auch nicht anzunehmen – nicht haltbar sei. Er meinte, dass sie das Kind auch nicht aushungern lassen könne und zeigte ihr schließlich zwei Optionen auf: ‚Entweder Sie lehnen das Kind komplett ab und drücken dem Kind ein Kissen ins Gesicht – mit Strafen müssen Sie nicht rechnen, da sie in der Sondersituation Geburt gehandelt haben – oder sie geben dem Kind die gleichen Chancen wie dem älteren Bruder.‘ Meine Mutter brauchte noch ein paar Stunden und nahm mich an.

 

Einen älteren Bruder, eine jüngere Schwester: wie war denn Deine Rolle in der Familie?

 

Matthias Berg: Meine Mutter behandelte mich wie meine Geschwister auch. Ich habe nie eine Sonderrolle eingenommen: ich musste mein Zimmer aufräumen, ich musste die Straße kehren und im Winter auch Schnee schaufeln. Offen gestanden: das war das einzig segensreiche für mich – ich wäre sonst einfach viel zu faul gewesen, mein Zimmer aufzuräumen (lacht). Die Anfangszeit war für meine Mutter sehr schwer. Es ist die entscheidende Frage, wann ich das Kind in der Öffentlichkeit zeige. Wie reagieren die anderen Menschen? Meine Eltern überlegten sich von Anfang an, wie sie es machen. Vor allem wollten sie nicht, dass ich die blöden Sprüche als Kind abbekomme. Meine Mutter hat dann harte Wege gehen müssen – das erzählte sie mir erst im Studium. Beim Einkaufen setzte sie mich z. B. neben die Kasse. Hinter ihr standen Frauen, die sagten: ‚Was mag in der Familie wohl passiert sein, dass da so ein Kind bei rauskommt?‘ Oder sie wurde direkt angesprochen: ‚Frau Berg, ein behindertes Kind muss doch heute nicht mehr sein – dafür gibt es doch Heime.‘  Die ersten zehn Jahre in Detmold spürte ich nie, dass ich „behindert“ bin. Ich machte alles, was die anderen Kinder auch machten: Fahrrad fahren, auf Bäume klettern – es war super. Doch bis heute hat meine Mutter so etwas wie eine innere Wunde, die auch nicht mehr verheilen wird: sie weiß, dass sie das Zeug genommen hat und ich dabei herausgekommen bin. Ich glaube, dass ich ihr das in Gesprächen auch nicht mehr nehmen kann. Ich versuche einfach ein normales Leben zu führen und zu zeigen, dass alles gut ist.

 

Ob Matthias Berg gerne lange Arme hätte und welche Rolle der Mut seiner Eltern in seinem Leben spielt, erklärt er hier (2:34min): 

Matthias Berg und Stefan Bier kommentieren die Paralympics 2008 in Peking.

Du hast es gerade beschrieben, dass Du von Kindesbeinen alles gemacht hast. Gibt es Dinge, die dennoch nicht funktionieren?

 

Matthias Berg: Von Tennis über Reiten bis hin zu Flasche tauchen ließ ich wenig aus (lacht). Du darfst erst sagen, dass es nicht klappt, bis dass Du es ausprobiert hast. Ich probierte auch Windsurfen aus – das ging gar nicht (lacht). Alleine schon das Segel herauszuziehen… Am Abend konnte ich nicht einmal mehr die Gabel festhalten, so taten mir die Arme weh. Das war also nicht meine Sportart. Ich fand aber immer wieder Leute, die mich beim Ausprobieren unterstützten. Beispiel Flasche tauchen: wie komme ich an das Atemgerät heran, wenn das aus dem Mund herausfliegt – das angel ich nämlich nicht wieder. Ein Tauchlehrer testete es mit mir, erst einige Tage im Swimmingpool, dann im Meer. Er band einfach ein Band an das Atemgerät, sodass es mir höchstens direkt vor die Hände fallen kann. Im Pool konnte ich nicht ertrinken und dann hat es auch draußen geklappt – klasse!

 

Als bekannter Leistungssportler und Hornist, aber auch als ZDF-Experte würde ich erwarten, dass Du auch diesbezüglich auf der Straße angesprochen wirst. Passiert dies häufiger?


Matthias Berg: Bei Kindern ist es ganz klar, die fragen: ‚was hast Du denn da?‘ Dann beuge ich mich

herunter und zeige ihnen meine Hände. Sie fangen an zu zählen und stellen fest, dass ich nur drei statt fünf Fingern habe. Wir freunden uns so ein kleines bisschen an und am Ende des Gesprächs wissen sie, was mit mir los ist. Sie gehen zu ihren Eltern und erklären ihnen das – denn die trauten sich nicht, aber sie sind mindestens genauso neugierig.

Wenn wir im Schwimmbad sind und ich nur eine Badehose anhabe, dann sieht man das noch mehr. Auf der linken Seite schaut z. B. auch das Schlüsselbein ein wenig heraus. Die Kinder fragen natürlich und schon geht ein super Gespräch los – die ganz Mutigen dürfen auch anfassen. Sie stellen fest, dass sich das genauso anfühlt wie bei ihnen.

Erwachsene schauen eher verstohlen, aber ich habe schon ganz lange keine blöde Erfahrung mehr gemacht. Ich habe vor allem nette Begegnungen. Hin und wieder passiert es, dass jemand sagt: ‚Ich kenne Sie doch irgendwo her.‘ ‚Mhm, da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht aus dem Fernsehen?‘ So kommt man ins Gespräch. Ich liebe das! Ein bisschen Smalltalk, ich erzähle, dass im August / September wieder Paralympics im Fernsehen kommen: ‚Schalten Sie doch ein!‘ Und schon haben wir beide einen guten Tag. Mit diesem guten Gefühl wird mein Gegenüber auch wieder auf andere Menschen (mit Behinderung) zugehen. Das ist nicht wie bei einem Thomas Gottschalk, dem das auf Schritt und Tritt passiert – alle paar Wochen passiert es mal, aber ich finde es großartig. Wie lange habe ich mir gewünscht, dass Menschen ohne Behinderung Menschen mit Behinderung ansprechen. Bevor Menschen etwas falsch machen, machen sie eher gar nichts – es geht mir ja genauso.

 

Seit über zwanzig Jahren bist Du als ZDF-Experte bei den Paralympics im Sommer und im Winter dabei. Was sind Deine Aufgaben dabei?

 

Matthias Berg: 2000 war ich zum ersten Mal mit dem ZDF in Sydney. In diesem Jahr berichtete zum ersten Mal die Sportredaktion über uns, vorher besuchte uns die Gesundheitsredaktion. Ich bezeichnete die Berichte immer als „Schicksalsberichte“ (lacht): ‚er hat sein Schicksal gemeistert.‘ - irgendwann kannst Du es nicht mehr hören. Aber ohne diese Redaktion hätte überhaupt gar nichts über die Paralympics im Fernsehen stattgefunden – also bin ich letztlich natürlich wirklich dankbar. Die ZDF-Sportredaktion kannte den Sport, aber keinen paralympischen Sportler – woher auch? Sie brauchten jemanden, der ihnen die Sportler benennt und ein bisschen etwas erklärt – das war ich. Es war eigentlich geplant, dass ich nur die Eröffnungsfeier, dreieinhalb Stunden live, mit kommentiere. Von diesen dreieinhalb Stunden sind eineinhalb Stunden Einmarsch der Nationen. Wenn Du noch nie mit Behindertensportlern zu tun hast, wird es

dabei ganz dunkel (lacht)… Ich merkte dann aber an, dass es doch nicht sein könnte, dass ich 17 Stunden hinfliege, 17 Stunden zurückfliege, um dann für lediglich dreieinhalb Stunden dort zu sein. Wenn ich schon einmal unten bin, bleibe ich doch die Zeit über und erkläre ein bisschen.Für die Sportredaktion bestand am Anfang die größte Herausforderung darin, was sie sagen dürfen und was nicht. Beispiel Gunter Belitz: begnadeter Hochspringer, aber mal mit einer über- und mal mit einer unterirdischen Leistung. An einem Tag lieferte er eine sehr schlechte Leistung im Hochsprung ab und der Kommentator überlegte zu sagen, er sei heute wohl mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden – Gunter ist aber oberschenkelamputiert. In der Redaktionssitzung wurde bestimmt eine Viertelstunde diskutiert, ob das gesagt werden darf. Darf man natürlich so nicht. Aber wenn du versuchst, die Sprache an die Menschen mit Behinderung anzupassen, bestehst Du nur noch aus Fettnäpfchen. Also nimmst du als Reporter einfach das gleiche Vokabular wie bei den Nicht-Behinderten. So kam es dann zunächst, dass ich jeden Bericht vor dem Senden anschauen musste oder durfte (lacht)… Jedenfalls haben wir ganz gut zueinander gefunden, sodass ich seitdem Experte bin.

Von weiteren Eindrücken als ZDF-Experte und darüber, wie Matthias Berg sich als Experte fühlt, erzählt er in diesem Audio (2:10min):

Die Paralympics in Tokio stehen vor der Tür. Wie werden diese besonderen Spiele für Dich ablaufen?

 

Matthias Berg: Normalerweise arbeiten ARD und ZDF zusammen. Alles, was die Technik betrifft, wird geteilt und ein ganzer Stab ist dafür über etliche Wochen unterwegs. Das wird dieses Jahr anders sein: es fliegt nur eine kleine Delegation nach Tokio. Die Produktion und der Schnitt bleiben z. B. in Mainz. ARD und ZDF arbeiten tageweise im Wechsel. Wir sind vermutlich zwölf Personen – mich eingeschlossen –, die nach Tokio reisen, statt wie üblich 140. Es sind jetzt schon die „Playbooks“ veröffentlicht worden, in denen steht, wie wir uns verhalten müssen: die AHA-Regeln plus Lüften gelten dort auch. Zusätzlich kommen aber noch Einschränkungen auf uns zu: wir dürfen keine normalen Taxen oder die U-Bahnen nutzen. Wir bewegen uns nur vom Hotel zum Broadcastcenter, ggf. noch zu den Hallen. Alles, was in meinen Augen die Paralympics einmalig macht – die Welt und Freunde zu treffen –, ist leider nicht erlaubt. Meine alten Sportlerkollegen, die z. T. als Trainer oder Betreuer oder Teamchefs oder Co-Moderatoren unterwegs sind und die ich sonst regelmäßig wiedertreffe, darf ich dort eben nicht treffen. Acht Mal war ich für Musiktourneen in Tokio: auch meine ganzen Hornkumpel in Tokio darf ich nicht treffen. Ich bin doppelt geimpft und wir werden mindestens einmal am Tag getestet. Allerdings kann ich die Sorge der Japaner schon verstehen, aber ich kann genauso auch das IOC und das IPC verstehen. Ein Superspreader in Tokio würde die Stadt lahmlegen. Das IOC hingegen rechnet vor, wie viele Menschen die Spiele vor dem Fernseher verfolgen werden: es sind Milliarden. In Sachen Begeisterung für die Sportler habe ich aber noch Hoffnung für die Paralympics: bei Olympia treten die Profis an, aber die wirklich geliebten Sportler findest Du jedes mal wieder bei den Paralympics.

 

 

Auch wenn die Spiele anders werden als die, die wir bislang erlebt haben, wünschen wir uns natürlich ganz viele geliebte SportlerInnen und Dir viel Spaß in Tokio.

 

Das Interview führte Katharina Tscheu.

ich oben auf dem Treppchen. Mit 18 Jahren war ich dann schon in beiden Nationalmannschaften: Ski-Alpin und Leichtathletik. 1980 war ich zum ersten Mal bei den Winterparalympics und gewann eine Bronzemedaille. Im gleichen Sommer war ich auch bei den Sommerparalympics. Im Sommer lief es besser, aber der Winter bereitete mir mehr Spaß. So kam ich zum Sport und bin dabei geblieben.

 

Das war also Dein Einstieg in den Leistungssport, aber Du hast doch auch noch doppelt studiert, oder?