Diagnose: Mutig die Berge hinunter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hallo Noemi, herzlichen Dank, dass Du Zeit für uns hast und unsere Fragen beantwortest. Du bist sehend zur Welt gekommen. Wie hast Du die Zeit erlebt, als die Sehkraft weniger wurde?

 

Noemi Ristau: Bei mir ging es schon recht schnell: das war ein Prozess von einem halben bis dreiviertel Jahr. Es fing an, als ich ca. 14 Jahre alt war. Es wurde immer schlechter, mit ca. 18 Jahren blieb es dann bei ungefähr zwei Prozent Sehkraft stehen. Das erste war, dass meine damalige Lehrerin in der vierten Klasse gemerkt hat, dass etwas nicht mehr stimmt. Ich konnte nicht mehr so flüssig lesen. Automatisch habe ich mich in der Klasse nach vorne gesetzt, aber irgendwann wurde auch das Tafelbild immer unschärfer. Als Kind habe ich die Veränderung zunächst gar nicht so wahrgenommen, sondern habe nur gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Als es dann klar war, was es ist, war es am Anfang nicht leicht, damit umzugehen. Gerade in der Pubertät ist es nicht einfach. Dazu kam der Schulwechsel – ich bin auf die Blindenschule gewechselt. Das war keine leichte Zeit.

 

Was hast Du in Deinem Leben durch den Ausbruch der Erkrankung Morbus Stargardt umstellen müssen?

 

Noemi Ristau: Am Anfang eigentlich alles (lacht). Ich musste die Schule wechseln, ich konnte viele alltägliche Sachen nicht mehr so machen wie vorher. Das ganze Umfeld hat sich verändert. Mit 15 Jahren habe ich eine blindentechnische Grundausbildung an einer Blindenschule in Marburg gemacht und bin auf die blista (Anmerkung der Redaktion: Abkürzung für Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg, die verschiedene Schulabschlüsse für sehbeeinträchtige Menschen anbietet) gekommen. Früher konnte ich an meiner Schule ganz normal mitschreiben, dann wurde ich jedoch umgeschult, und habe gelernt mit einem Laptop und Sprachausgabe zu schreiben. Eigentlich hat sich alles verändert und musste sich an meine Erkrankung anpassen.

 

Ich kann mir vorstellen, dass solche Umstellungen nur mit viel Unterstützung möglich sind. Wer hat Dich unterstützt?

 

Noemi Ristau: Meine Eltern und meine Geschwister standen immer hinter mir und stehen auch jetzt noch hinter mir. Am Anfang war es so, dass meine Mama sehr positiv eingestellt war und meinte: „Mach das, geh auf die Schule, das wird Dir helfen.“ Nach zwei, drei Jahren, als ich gut zurecht kam, habe ich gemerkt, dass sie eher damit zu kämpfen hatte, dass ich weg war. Damals hatten wir auch Psychologen an der Schule, die mich begleitet haben. Aber auch viele Freunde waren Unterstützer. Ich habe jetzt noch viele Freunde von früher, die mir in dieser Zeit viel Halt gegeben haben.

 

Ungefähr zwei Prozent Sehkraft besitzt Du noch. Was siehst Du noch? Wie kann man sich das vorstellen?

 

Noemi Ristau: Als es sich bei mir damals sehr schnell stark verschlechtert hat, dachte ich, dass ich gar nichts mehr sehe. In der Pubertät ging es plötzlich von 100 Prozent auf ungefähr zwei Prozent herunter. Seitdem es konstant stehen geblieben ist, ist es viel leichter damit umzugehen. Man gewöhnt sich quasi daran. In der Mitte sehe ich gar nichts mehr, nur außen. Aber außen sehe ich auch nur verschwommen: Farben und Umrisse. Ich merke das selbst aber bewusst nicht. Manchmal habe ich so Situationen, dass wenn ich z. B. in der Stadt unterwegs bin, aus einem bestimmten Blickwinkel schaue und dann noch einmal hinsehe, andere Sachen sehe, also kleinere Sachen wie z. B. eine Laterne (lacht). Das passiert schon, dass ich irgendwo gegen laufe (lacht). Da merke ich schon, dass in der Mitte doch kein Sehfeld ist, aber im alltäglichen Leben merke ich es kaum, da das Gehirn es gut ausgleicht.

 

Als Jugendliche warst Du bei vielen ÄrztInnen. Welche Erfahrungen hast Du mit ÄrztInnen zu dieser Zeit gemacht?

 

Noemi Ristau: Ganz am Anfang, als es aufgetaucht ist, hatte ich sehr negative Erfahrungen, muss ich leider sagen. Ich kann mich an die erste Situation erinnern, als ich beim Arzt saß und die Schrift nicht lesen konnte. Es wurde mir unterstellt, dass ich lügen würde. Ich war damals recht verzweifelt. Weil wir damals selbst noch nicht wussten, was es ist, war ich sehr unsicher. Wenn man als Kind / Jugendlicher so etwas unterstellt bekommt und man selbst aber genau weiß, dass man es nicht sehen kann, ist es nicht leicht. Dann habe ich z. B. die Zahlen beim Augenarzt auswendig gelernt, weil mir der Arzt nicht geglaubt hat. Das waren ein, zwei Jahre, in denen ich viel in Kliniken war, bis es schließlich klar war, was es war. Morbus Stargardt war damals noch nicht so bekannt und auch nicht gut erforscht. Als die Diagnose dann endlich klar war, hatte ich auch Ärzte, die gleich sagten: „Ganz typisch, Morbus Stargardt.“ Meine ganze Familie wurde dann durchgecheckt – mein Bruder hat es auch. Seitdem habe ich eher positive Erfahrungen gemacht.

 

Du hast eine Ausbildung zur Ergotherapeutin gemacht. Wie ist das möglich?

 

Noemi Ristau: Das ist eine ganz normale Ausbildung für sehende Menschen gewesen. Ich hatte mir vorgenommen, das zu machen. Ich bin also zu der Schule gegangen und dort wurde mir von der Ausbildung abgeraten, weil sie sagten, dass schon zweimal blinde Menschen dort gewesen seien und es nicht geklappt hätte. Sie haben sich es sehr schwierig vorgestellt. Ich habe denen erzählt, dass ich meine Hilfsmittel und mich kenne und denke, dass die Ausbildung möglich ist. Im Prinzip habe ich meine eigene Technik gefunden. Ich habe die Ausbildung ganz normal mitgemacht. Zwar hatte ich einen Nachteilsausgleich, was man aber auch im Studium bekommt – eine Zeitverlängerung in den Klausuren. In der Ausbildung musste ich sehr viel adaptieren. Manche Unterlagen habe ich digital, manche nur auf Papier bekommen. Diese Unterlagen habe ich mir durch Assistenzhilfe entweder abtippen lassen oder ich habe mit dem iPad gearbeitet. Damit habe ich auch im Unterricht viel gearbeitet, damit ich alles mitbekomme. Ich saß immer in der ersten Reihe und habe mit dem iPad herangezoomt, damit ich weiß, was vorne an der Tafel passiert (lacht). Ja, man muss sich schon durchkämpfen und seine Technik für bestimmte Fächer finden. Aber eigentlich hat es gut geklappt. 

 

 

„Wir mussten eine Sprache für uns finden.“

~ Noemi Ristau über den Stellenwert der Kommunikation mit ihrer Guidin.

 

 

 

Du hast das iPad als ein Hilfsmittel angesprochen. Hast Du noch andere nützliche Hilfsmittel, die Du im Alltag nutzen kannst?

 

Noemi Ristau: Mittlerweile gibt es sehr viele Möglichkeiten. Ich habe mit dem iPad gearbeitet und auch eine Lupe habe ich genutzt. Im letzten Ausbildungsjahr kam eine Brille mit einer Kamera ganz neu auf dem Markt, mit der man sich den Text vorlesen lassen kann. Die habe ich sehr viel verwendet. Ich habe mir selbst viel abgetippt und vergrößert. Ich habe aber auch viel mit einem Skelett gearbeitet, bei dem ich z. B. Bänder als Muskelstränge angeklebt habe, sodass ich solche Sachen besser nachvollziehen konnte.

 

Du möchtest so selbstständig wie möglich unterwegs sein. An welchen Stellen endet

die Selbstständigkeit (noch)?

 

Noemi Ristau: Ja, mein Ziel ist es, alles machen zu können, was ein sehender Mensch auch kann. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, muss ich nur sehen, wie ich es umsetzen kann. Was eine große Hürde und immer wieder schwierig ist, ist Papierkram. Briefe von Behörden oder im Internet bestimmte Sachen nachschlagen, ist schon schwierig. Da muss ich mir manchmal Hilfe holen.

 

Man merkt, dass Du auch abseits des Skisports sehr sportlich bist. Welche Rolle hat der Skisport in Deinem Leben gespielt und spielt er jetzt?

 

Noemi Ristau: Ja genau (lacht). Ich nehme alles mit: ich gehe joggen, fahre Wasserski, skate mit Begleitung, schwimme – alles, was Spaß macht. Früher war der Skisport ein Hobby von mir. Wir sind mit der Familie zweimal im Jahr in den Skiurlaub gefahren, sodass ich mit drei Jahren zum ersten Mal auf Skiern stand. Auf der blista gab es eine Skifreizeit und ich habe das Skifahren wieder für mich entdeckt. Dort konnte ich zweimal im Jahr mitfahren. Zwei, drei Jahre habe ich es danach wieder aus den Augen verloren – habe andere Sachen gemacht, war z. B. in Indien. Schließlich habe ich es wieder aufgenommen. Da war es eher ein größeres Hobby und ich war im Nachwuchsbereich aktiv. Recht schnell habe ich Erfolg gehabt und dachte mir, dass ich es eigentlich professioneller angehen müsste. Mittlerweile ist es mein Hauptberuf und habe mich damit selbstständig gemacht. Der Sport ist also vom Hobby zum Beruf geworden.

 

Du bist in allen fünf Disziplinen des Para-Ski-Alpin-Sports unterwegs (Abfahrt, Slalom, Riesenslalom, Super-G und Super-Kombination). Welche ist Deine Lieblingsdisziplin und warum?

 

Noemi Ristau: Das ist schwierig, da es auch wechselt. Am Anfang mochte ich Slalom am liebsten, mittlerweile – so seit zwei Jahren – muss ich sagen, dass der Speed eher mein Ding ist, vor allem der Super-G. Das geht einfach am schnellsten und ich muss mich am meisten überwinden, weiß aber, dass ich den Mut dazu habe. Vielen fällt es eher schwer, auch mal Risiko einzugehen.

 

Wie läuft Dein Training ab? Hast Du ein spezielles Trainingsprogramm?

 

Noemi Ristau: Wir sind mit der Nationalmannschaft ungefähr 110 Tage im Jahr unterwegs. Sonst habe ich seit eineinhalb Jahren eine Kooperation mit einem Vitafitness, von denen ich meine Trainingspläne bekomme, die an den Skiplan angepasst sind. Alle zwei Monate bekomme ich einen neuen Trainingsplan. Dort habe ich auch einen Trainer. Je nachdem, was ich gerade trainiere, trainiere ich alleine oder er begleitet mich. Wenn es Training der Maximalkraft ist, ist er sehr oft dabei. Wenn es Ausdauertraining im Sommer ist, kann ich das auch gut alleine.

 

Den Berg fährst Du mit Deiner Guidin Paula Brenzel herunter. Wie funktioniert die Kommunikation zwischen euch?

 

Noemi Ristau: Das wichtigste ist das Zusammenspiel beim Fahren. Es gibt keinen Plan, wie sie mich herunter bringen muss – das machen alle Blinden auch anders (lacht). Wir mussten eine Sprache für uns finden, die für uns passt und sind auch stetig dabei diese weiterzuentwickeln. Sie sagt dauerhaft Kommandos und ich gebe ihr immer eine Rückmeldung. Von Disziplin zu Disziplin haben wir auch unterschiedliche Kommandos. Im Slalom sagt sie: „Hoch... drauf.“ „Hoch“ kommt bei der Schwungauflösung, „drauf“, wenn ich auf die Kante gehe. Im Lauf kommen noch Informationen dazu wie „Da kommt eine Kante.“ Im Speed ist es dann eher: „Hocke, Hocke, links, links, rechts.“ So führt sie mich den Berg herunter. Wichtig ist, dass wir miteinander kommunizieren und sie weiß, was bei mir passiert. Wenn sie zu weit weg ist, sage ich z. B.: „Stopp, zu schnell.“ (lacht). Es passiert auch, dass sie hinfällt oder dass ich hinfalle. Wenn jemand schreit, wird angehalten. Man muss schon jemanden finden, der passt. Sie muss dabei Ski-Profi sein. Ich habe es schon mit verschiedenen Guides probiert, aber es muss wirklich jemand aus dem Rennsport sein, da ich zu schnell geworden bin (lacht). Der Guide muss das eigene Fahren so verinnerlicht haben, dass er auch noch nach hinten sehen kann. Es ist natürlich schön, wenn es dann auch noch menschlich passt und das ist bei meiner Guidin der Fall.

 

Du bist aber auch schon alleine und ohne Guide Ski gefahren, wobei ihr über ein Headset und Kameras verbunden wart. Was war das für eine Erfahrung und ist es Projekt mit Zukunft?

 

Noemi Ristau: Das war schon eine schöne Erfahrung, mal alleine zu fahren. Für mich war  es gar nicht so viel anders. Für Paula war es noch aufregender als für mich, denn ich hatte sie dennoch die ganze Zeit auf dem Ohr. Wenn ich normalerweise mit ihr fahre, hat sie ein grellgelbes Oberteil an, an dem ich mich noch orientieren kann. Aber ich fahre schon 90 Prozent nach Gehör. Das Gelbe hat mir am Anfang gefehlt. Auch wenn ich falsch gefahren bin, konnte sie mir dennoch schnell Rückmeldungen geben.

Das Projekt sollte zeigen, was mit dem Internet möglich ist. Ich würde sagen, dass es im Rennsport keinen Sinn ergibt, weil die Emotionen eine große Rolle spielen. Wenn Paula vor mir herfährt, merke ich es auch, wenn der Berg steiler wird. Es ist dann nicht so monoton. Ich glaube nicht, dass es eine realistische Möglichkeit für den Rennsport darstellt. Es funktioniert, aber mit Guide vor mir finde ich es besser.

 

Das nächste große Event sind die Weltmeisterschaften im Januar 2022 und natürlich Peking 2022. Was sind Deine Ziele?

 

Noemi Ristau: Ich fahre alle fünf Disziplinen, da ist die Chance höher, auch Gold zu gewinnen. Ich will auf jeden Fall eine Medaille, am liebsten auch eine Goldmedaille – sowohl bei der WM als auch bei den Spielen. Eine Medaille liegt auf jeden Fall im Bereich des Möglichen.

 

Dafür drücken wir Dir natürlich ganz fest die Daumen.

 

Bildquelle: Christoph Santos

Das Interview führte Katharina Tscheu.

Blind Skifahren – geht das überhaupt? Und ob das geht! Noemi Ristau hat sogar den Weltcup-Gesamtsieg in der Konkurrenz der sehbehinderten Starterinnen im alpinen Skisport eingefahren. Noemi ist noch mit einer normalen Sehkraft auf die Welt gekommen. Erst im jugendlichen Alter ist die vererbbare Erkrankung Morbus Stargardt ausgebrochen. Bei dieser Netzhauterkrankung, die in den meisten Fällen vor dem 20. Lebensjahr ausbricht, ist hauptsächlich die Makula (die Stelle des schärfsten Sehens in der Mitte der Netzhaut) betroffen. Aufgrund einer Genmutation werden Abbauprodukte eines Pigments nicht mehr abtransportiert und umgewandelt, sondern sie verbleiben in den Zellen der Netzhaut. Diese verfallen mit der Zeit. Meistens erfolgt keine vollständige Erblindung, sondern die Sehkraft kann am Rand des Gesichtsfelds in Teilen erhalten bleiben. Bei der Diagnostik wird häufig zunächst eine Kurzsichtigkeit festgestellt, bevor die charakteristischen rundlichen, gelben Flecken um die Makula herum auffallen. Bisher gibt es noch keine Behandlungsmöglichkeiten – Betroffene können sich nur bestmöglich mit der Situation arrangieren.

Wie Noemi Ristau dies gelang, wie sie ihren Sehverlust erlebt hat und wie Skifahren mit nur zwei Prozent Sehkraft gelingen kann, erzählt sie uns im Interview.