Diagnose: Daumen hoch! - Tischtennis ohne Hände

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hallo Herr Schmidt, vielen Dank, dass Sie Zeit für uns und unsere Fragen haben. Als Medizinstudentin interessiert mich natürlich: welche Erfahrungen haben Sie mit ÄrztInnen gemacht?

 

Rainer Schmidt: Seit meiner Geburt bin ich ein medizinisches Phänomen. Sowohl die erste Hebamme, die erste Medizinerin als auch die erste Amtsärztin waren verwundert. Bei meiner Geburt gab es noch keine Pränataldiagnostik – ich bin zuhause zur Welt gekommen. Das war ein großer kollektiver Schock für die Familie. Die Hebamme hat meiner Mutter aber damals gesagt: „Frau Schmidt, machen Sie sich keine Sorgen. Der Junge blickt ganz hellwach in die Welt – aus dem wird etwas.“ Es war eine Diagnose mit Prognose. Das war für meine Mutter sehr tröstlich, weshalb sie mir dies überhaupt erzählt hat. Dann brachten meine Eltern mich zu einer Amtsärztin, um einen Behindertenausweis für mich zu bekommen. Die Amtsärztin hat sehr viel in den Ausweis geschrieben, wofür ich ihr sehr dankbar bin, aber das stimmt heute gar nicht mehr. Im Ausweis steht z. B. ein „H“ für „hilflos“. Es steht auch darin, dass die körperlichen Merkmale unveränderlich sind – klar, meine Arme werden mir nicht mehr nachwachsen. Was sich aber sehr verändert hat, ist meine Kompetenz mit diesem Körper zu leben.

 

Das waren also die ersten Erfahrungen. Wie ging es aus medizinischer Sicht in Ihrem Leben weiter?

 

Rainer Schmidt: Bei weiteren Ärzteerfahrungen gab es wieder Prognosen. Die Ärzte suchten danach, wo das herkommt. Amniotisches-Band-Syndrom stand im Raum. Meine Mutter bekam den Hinweis, dass ich mit der Gebärmutterhaut verklebt war und aufgrund mangelnder Durchblutung die Extremitäten abgestorben seien. Die Zukunft war, dass sie nie wieder Kinder bekommen könne. Das hat sich sehr schnell als unwahr herausgestellt: eineinhalb Jahre nach mir ist mein kleiner Bruder auf die Welt gekommen. Seitdem denke ich immer: „Vorsichtig mit den Prognosen.“ Tatsächlich war die Ursache meiner Behinderung sehr rätselhaft und wurde mehrfach falsch gestellt. Ein Arzt meinte, dass die Nabelschnur die Extremitäten abgeschnürt hätte – was ich für eine obskure Theorie halte, denn das erklärt auch überhaupt nicht meinen verkürzten rechten Oberschenkel. Die These, die ich bis heute für die wahrscheinlichste halte, besagt, dass ich ein Fall des Femur-Fibula-Ulna-Syndroms bin. Immer wenn Mediziner „Syndrom“ sagen, haben sie keine Ahnung, wo es herkommt – sie beschreiben nur das Phänomen. Das weiß ich aber erst, seitdem meine Schwester schwanger werden wollte, weil sie wissen wollte, ob es in der Familie einen Gendefekt gibt. Bis dahin hatte ich keine wirkliche Diagnose, was mich aber nicht wirklich gestört hat. Das einzige, das für meine Eltern bedeutsam war, war, dass meine Mutter keine Contergan-Tablette genommen hatte. Ich bin Jahrgang 1965, da war dieses Thema eigentlich durch. Die Schuldfrage war damit für meine Mutter geklärt. Sie hatte nichts falsch gemacht. Ich habe diese Frage auch nie gestellt. Deswegen differenziere ich vermutlich auch so stark zwischen dem medizinischen und dem sozialen Phänomen, also dem Umgang mit der Behinderung. Ich behaupte immer, Sie können mit kurzen Armen und einem verkürzten Bein glücklich oder unglücklich leben. Was führt dazu, dass man glücklich lebt? Bei mir war es eine intakte Familie, ein gutes Umfeld, dörfliches Aufwachsen, Freunde, kein zu großes Gewicht, auf das, was ich alles nicht kann.

 

Jetzt haben Sie von all den ÄrztInnen berichtet, die um Sie gerätselt haben. Welche Erinnerungen haben Sie denn an ÄrztInnen?

 

Rainer Schmidt: Es gibt eine erste Erfahrung, die ich nicht mehr erinnern kann, da ich erst eineinhalb Jahre alt war. Wegen des verkürzten rechten Beines bin ich in ein Krankenhaus gekommen, um mit einer Prothese versorgt zu werden und damit laufen zu lernen. Ich meine, mir einbilden zu können, dass ich an diesen Flur mit den großen Glasbausteinen, in dem ich an einem Rollator laufen gelernt habe, Erinnerungen habe. Meine Eltern haben mir erzählt, dass das für mich eine schreckliche Zeit war und ich immer geheult hätte wie am Spieß, wenn sie mich montags wieder in das Krankenhaus gebracht haben. Die nächste Erinnerung ist dann schon einige Jahre später, dann kamen die ersten Operationen an den Armen. Wenn Sie kein Ellenbogengelenk haben, wächst der Oberarmknochen nämlich einfach weiter. Ein Mediziner erklärte mir, dass das Knochenwachstum über die Gelenke gesteuert wird. Wenn das Gelenk nicht vorhanden ist, wachsen die Knochen einfach weiter, weil niemand „Stopp“ sagt. Das wäre bei mir auch passiert – die Knochen wären einfach unten herausgekommen. Am rechten Arm sieht man, dass der noch deutlich spitzer ist als der linke. Man konnte die Knochen im 90 Gradwinkel brechen, neu zusammenwachsen lassen, zwei Drähte durch und an diesen Winkel Armprothesen ansetzen. Hier wurde eine notwendige medizinischer Operation mit einer vermeintlich sinnvollen Ergänzung verquickt. Als Zehnjähriger habe ich das natürlich nicht hinterfragt. Fast zwei Jahre habe ich mit diesen Armprothesen geübt. Ich habe alles damit gelernt. Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass ich erstens nichts besser, zweitens nichts schneller kann und drittens habe ich immer diese Dinger auf der Schulter hängen. Immer öfter habe ich diese Prothese nicht mehr getragen und auch meine Eltern haben aufgehört, Druck auszuüben. Ich komme so gut zurecht und ich empfinde meine Behinderung auch nicht als ästhetische Katastrophe.

 

Normalerweise würde ich an dieser Stelle nach „Einschränkungen“ im Alltag fragen, doch ich sehe schon, dass es im Alltag scheinbar keine Einschränkungen gibt. Wo stoßen Sie dennoch an Ihre Grenzen?

 

Rainer Schmidt: Ich finde, die Frage ‚Was kann ich nicht?‘ ist eine völlig berechtigte Frage. Immer wieder sagen auch Menschen, die mich kennen und erleben, dass ich doch alles könne. Selbst mein Patchworkfamiliensohn Johannes sagt das, gleichwohl er wissen könnte, dass das gar nicht stimmt. Kartoffel schälen kann ich nicht. Könnte ich, dauert aber ewig lange – also mache ich es nicht (lacht). Das sind aber auch ganz banale Dinge: wenn ich mir eine Winterjacke anziehe. Den Reißverschluss unten einhängen kann ich nicht, wenn ich die Jacke trage. Also habe ich immer Jacken mit Reißverschluss, lasse die unten ein wenig zu und ziehe sie dann über den Kopf an. Das einzige, was ich deshalb immer dabei habe, ist eine Bürste (lacht). Denn wenn ich die Jacke über den Kopf ausziehe, stehen die Haare natürlich in alle Richtungen. Bei einem Mantel, den ich knöpfen muss, geht es gar nicht. Also frage ich Menschen, ob sie mir eben einige Knöpfe schließen könnten. Das sind tatsächlich elementare Dinge.

Die Dinge des praktischen Lebens kann ich ganz gut und auch alleine. Es ist aber immer eine Frage der Zeit. Bei mir dauert kochen z. B. zwei- bis dreimal so lange wie bei anderen. Bis ich alles kleingeschnitten habe, die Möhren alle geschält habe, das dauert. Bei wenig Zeit richte ich mich dann auf einfachere Dinge ein.

Auto fahren ist auch sehr unkompliziert, Dank der technischen Weiterentwicklung. Am Lenkrad ist eine Röhre, wo ich den Arm reinstecke und lenke. Neben dem Fahrersitz ist eine verstellbare Fernbedienung. D. h., ich drücke einen Knopf und der linke Blinker springt an, es gibt Gas und Bremse, weil es ein Automatikwagen ist und der Schalthebel ist ein bisschen höher gesetzt.

 

Spannend, welche technischen Möglichkeiten es heute gibt.

 

Rainer Schmidt: Ich bin ja ein begeisterter Fan der Technik. Ich habe KollegInnen kennengelernt, die – ich formuliere es vorsichtig – ein paar Vorbehalte gegenüber der Technik haben. Als ich gehört habe, dass Apple „Siri“ auf den Markt geschmissen hat, war ich ganz begeistert. Vorher hatte ich einen alten Knochen als Mobilphone, bei dem Telefonieren und SMS schreiben, selbst mit T9, ewig gedauert hat. Zwei Wochen später hatte ich ein iPhone mit Sprachsteuerung. Meine Freunde fragen immer, warum ich so viel schreibe. Aber ich schreibe gar nicht, sondern quatsche einfach (lacht). Das Ding schreibt für mich alles auf und es funktioniert super! Das Auto ist auch so ein tolles Beispiel. Das allererste Auto wurde so umgebaut, dass eine komplette Konsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz passte. Alles wurde vollständig mechanisch umgelegt. Alle Schalter wurden verlegt, was sehr aufwendig war – zeitlich und finanziell. Heute geht das alles digital.

 

 

"Ich bin ein großer Freund der Selbstbestimmung"

~ Paralympicssieger Rainer Schmidt über seinen Weg zum Tischtennis.

 

 

 

Sie haben mehrere paralympische Goldmedaillen im Tischtennis gewonnen, nun sind Ihre Arme recht kurz und es fehlt eine Hand zum Greifen. Wie funktioniert das Tischtennisspielen?

 

Rainer Schmidt: Ich bin ein großer Freund der Selbstbestimmung, aber Selbstbestimmung darf natürlich auf gar keinen Fall heißen, dass wir Menschen alleine lassen. Das ist natürlich ein schönes Thema der Medizin. Wie ist das Verhältnis Arzt / Patient konstituiert? Natürlich hat der Arzt einen erheblichen Wissensvorsprung, was in der Vergangenheit vermutlich dazugeführt hat, dass der Arzt nur gesagt hat: „Sie brauchen ein neues Knie – unterschreiben Sie.“ Vermutlich hat er nicht einmal nach der Unterschrift gefragt, sondern er hat den Termin festgelegt. Mittlerweile hat man gemerkt, dass Patienten BürgerInnen sind und aufgeklärt werden müssen. Der Arzt wird als Experte auch zum Dienstleister und zum Kümmerer, was ich sehr schön finde.

Das Tischtennisbeispiel ist genau dieses Beispiel in meinem Leben zu diesem Thema. Ich war zwölf Jahre alt und mit meiner Familie in Österreich auf einem Bauernhof. Dort gab es eine Tischtennisplatte. Alle haben gespielt, nur ich nicht. Klar, ich hatte das ausprobiert, bin aber glorreich gescheitert, weil es für die Arme zu anstrengend war. Ein anderer Urlaubsgast hat mir schließlich den Schläger mit Schaumstoff und Schnüren an den Arm gebunden, was eine tolle Idee war. Fortan war ich begeisterter Spieler, auch wenn ich immer noch der schlechteste war. Aber ich konnte spielen. Das hat mich so sehr begeistert, dass ich in einen Tischtennisverein gegangen bin. Auch dort traf ich einen sehr erstaunten Trainer, der fragte, ob ich wüste, dass Tischtennis etwas mit Vorhand zu tun hätte. Aber ich habe ihm gezeigt, wie ich den Schläger halte und er hat mir gezeigt, wie Tischtennis funktioniert. Irgendwann hat mir mein Vater einen neueren Schläger gebaut und im Jahr 2000 hat mir ein Orthopädiemechaniker zum ersten Mal einen Schläger aus Carbon angefertigt, der genau zu mir passte. Das war eine sehr glückliche Entwicklung. Mein Schläger davor bestand aus einer Kunststoffröhre, die doch recht schwer wog. Als ich nicht mehr in der absoluten Spitze dabei war, kam eben diese Idee mit einem Carbonschläger auf. Der war deutlich leichter und ich konnte schnellere Bewegungen machen. Irgendwann wurden auch noch die Bälle vergrößert – das passte genau zu meinem Spiel.

 

Sie haben Theologie studiert und als Pfarrer gearbeitet. Welche Bedeutung hat der Glauben für Sie?

 

Rainer Schmidt: Ich bin in einem volksfrömmigen Haushalt aufgewachsen. Mit meiner Mutter bin ich vier- bis sechsmal im Jahr in die Kirche gegangen, sie hat mit uns zur Nacht gebetet. Ich bin mit sehr viel Urvertrauen aufgewachsen, sowohl meinen Eltern gegenüber als auch dem lieben Gott gegenüber, wenn ich das so parallelisieren darf. Ich habe das aber irgendwann infrage gestellt. So bin ich in eine relativ evangelikale Strömung hineingeraten, was mich am Anfang total begeistert hat, aber je länger ich dabei war, desto mehr hat es mich fragen lassen. Wir haben miteinander diskutiert und bei einer Andacht habe ich aus einem mich begeisterndem Buch zitiert. Danach stand ich fast als Ketzer da, obwohl es schon gut biblisch belegt war. Warum ich das alles erzähle? Dieses kritische Suchen war der wichtigste Impuls, weshalb ich Theologie studieren wollte. Ich habe nicht Theologie studiert, um Pfarrer zu werden, sondern weil mich meine Glaubensfragen beschäftigt haben.

Dazu kam eine biographische Frage. Ich habe einen ganz normalen Beruf gelernt, war verlobt und alles schien, als wenn ich jetzt heiraten, ein Haus bauen und zwei Kinder bekommen würde. Das war mir mit 25 Jahren zu wenig. Ich hatte einen ganz starken Drang, dass ich noch einmal raus musste. Ich bin im Oberbergischen geboren und wollte dort nicht auch noch sterben. Leider hat es mich dann nur bis Wuppertal getragen, das war für mich dann schon die große weite Welt. Es war zwar immer noch das Bergische Land, aber das Theologiestudium ist ein sehr reflektiertes Studium, bei dem du dich permanent mit den großen Fragen auseinandersetzen musst. Weil meine Lebensgefährtin das auf gar keinen Fall wollte, habe ich mich von ihr und meinen Eltern verabschiedet und bin nach Wuppertal gegangen.

 

Wie fielen später die Reaktionen Ihrer Gemeinde auf Sie als Pfarrer aus?

 

Rainer Schmidt: Bei der Theologie hat man erstes Examen, ein Vikariat und ein zweites Examen. Ich war im Vikariat in einer kleinen Gemeinde im Kölner Norden.

Die Reaktionen der Menschen dort waren grundweg positiv. Ich kann mich nicht an eine negative Erfahrung erinnern. Es gab aber natürlich ein theologisches Problem: wie macht der das beim Abendmahl austeilen? Das war ein sehr schneller Tagesordnungspunkt in der Gemeinde. Aber auch die Lösung war schnell gefunden. Die Presbyter, die sowieso immer den Gottesdienst mitgestalten, haben den Kelch übernommen, ich das Brot. Für Taufen habe ich mir an eine Art Ring an einen Schöpflöffel schweißen lassen, in den ich mit dem Daumen hinein kann. So habe ich die Kinder getauft.

Eine unerwartet sehr positive Reaktion hatte ich auf unvermeidbare Nähe. Wenn ich Menschen segne, kann ich das aus der Entfernung machen, aber beim Abendmahl oder auch bei Hochzeiten legen wir den Menschen wirklich die Hände auf die Häupter. Ich dachte, dass das doof aussieht, wenn ich weit weg stehe. Also bin ich sehr nah herangetreten. Kleine Kinder wurden beim Abendmahl immer auf den Arm genommen und ich habe die Kinder aus nächster Nähe gesegnet. Ich hatte immer erwartet, dass ein Kind anfängt zu schreien, wenn ich in den Nähebereich eindringe. Das habe ich nicht ein einziges Mal erlebt. Kinder schauen manchmal kritisch, aber wenn man näher kommt und sich respektvoll verhält, hat das immer geklappt.

Ich bin ja evangelisch und wir haben ein dezidiert anderes Amtsverständnis als katholische Gemeinden. Der evangelische Pastor ist kein Priester und es unterscheidet ihn nichts von den anderen Menschen, Wir gehen vom Priestertum aller Gläubigen aus. Ich glaube, dass die Menschen in die Kirche gehen, um über ihre Situation zu reflektieren, sie möchten dort Seelsorge erfahren, auch in jedem Gottesdienst. Im Gottesdienst soll nicht nur theologisches Wissen vermittelt werden, sondern er besitzt auch noch Zusatzfunktionen: Menschen möchten getröstet werden, ausruhen, Gemeinschaft erleben. Viele haben das als sehr tröstlich empfunden, dass ich dort mit all meinen Grenzen deutlich sichtbar agiere und so das Gefühl haben, dass ich nicht abgehoben bin. Das habe ich auch immer in meinen Predigten verdeutlicht.

 

Mittlerweile sind Sie als Dozent und Kabarettist unterwegs. Wie kann denn eine Entwicklung vom Pfarrer zum Kabarettisten stattfinden?

 

Rainer Schmidt: Die finde ich sehr naheliegend: beides ist Frontalunterricht. Gut, beim Kabarett gibt es mehr Applaus (lacht). Aber es ist beides näher als man denkt, weil man auf einer Bühne steht. Der andere Aspekt ist, dass ich viele Kindergottesdienste gefeiert habe. Bei Kindern musst du Geschichten erzählen. Da ich nicht der große Handpuppenerzähler bin, habe ich biblische Geschichten mit Sprache inszeniert. Dadurch habe ich Erzählkompetenz erhalten. Dann bin ich zu Vorträgen eingeladen worden. Am Anfang habe ich das ganz klassisch mit PowerPoint gemacht, beim nächsten Vortrag waren es dann schon zwei Folien weniger und eine Geschichte mehr. Das war eine Entwicklung, bei der auch mehr Pointen dazukamen. So hat sich das Kabarettprogramm entwickelt.

 

Im Programm „Däumchen drehen“ nehmen Sie auch sich selbst nicht so ernst, auch ihr Buchtitel „Lieber Arm ab als arm dran“ sprüht vor Selbstironie. Kann man Selbstironie lernen?

 

Rainer Schmidt: Das kommt sehr darauf an, was Sie unter lernen verstehen. Ich würde sagen, ja, das kann man lernen und man muss es lernen – so wie wir alles gelernt haben, was wir können. Ich rede hier vom Lernen durch Erfahrungen. Meine Erfahrung ist, dass meine Behinderung für mich weniger dramatisch ist als andere Menschen das denken. Wenn sie einen befreiten Umgang erleben, ist es auch kein beängstigendes Thema mehr. Das merkt man auch in der Seelsorge: wenn man einen Menschen verliert, durchlaufen sie einen psychologischen Entwicklungsprozess und kommen irgendwann wieder im Leben an. Das fühlt sich anders an als vorher, aber irgendwann können sie darüber lachen – im besten Fall. Wenn sie irgendwo am Anfang stehen bleiben, sind sie nur betroffen. Insofern kann man Selbstironie lernen, aber man kann es nicht lernen wie man z. B. in der Schule Englisch lernt. Man kann es also nur durch befreiende Erfahrungen lernen und das hängt sowohl von Ihnen als auch von Ihren Mitmenschen ab. Dass die Menschen sich mir gegenüber relativ „normal“ verhalten, liegt daran, dass ich mich sehr normal gebe.

 

Wie begegnen Sie Vorurteilen? Müssen Sie diesen überhaupt begegnen? 

 

Rainer Schmidt: Ich benutze ungern das Wort Vorurteil, weil es negativ konnotiert ist. Stattdessen spreche ich von „Bildern im Kopf“, die natürlich alle Menschen haben. Gegen ein Vorurteil muss ich angehen / kämpfen, Bilder im Kopf kann ich verändern. Ich erinnere mich an eine Begegnung in einem Bahnhof. Ich war spät abends unterwegs, hatte den Anschlusszug verpasst und den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen. Zum Glück hatte noch ein Dönerimbiss auf. Ich habe dort bestellt, bekam es, klemmte die Gabel unter die Uhr und aß. Zum Schluss habe ich den Teller genommen, ihn auf der Theke abgestellt und wollte bezahlen. Doch da hieß es dann, dass Essen sei geschenkt, ich hätte es schwer genug im Leben. Ich habe dann extra viel Trinkgeld gegeben (lacht). Übrigens, Ich mache öfter die Erfahrung, dass mir Menschen auf gar keinen Fall helfen wollen, weil sie denken, behinderte Menschen möchten alles selber machen. In meinem eigenen Supermarkt hat mich ein junger Mann gefragt, ob er mir eben helfen soll, die Sachen auf das Band zu legen. Ich wollte ihm gerade sagen, dass das sehr nett sei, weil es echt viel war. Die Verkäuferin sagte aber schon: „Der macht das immer alleine, der will keine Hilfe.“ Wir hatten nie zuvor über Hilfe gesprochen. Ich dachte: „Aha, sie überträgt andere Erfahrungen auf mich, meint aber trotzdem für mich antworten zu müssen.“ Dabei kann ich viel besser reden als Einkaufskörbe auspacken.

Ich lasse mir in der Tat auch helfen. Um den Gedanken wieder auf die allgemeine Ebene zu heben: mit solchen Situationen haben Sie aber als Frau auch zu tun oder man wird aufgrund seines jungen Aussehens nicht ernst genommen. Jeder Mensch hat permanent die Aufgabe sich im Umgang mit anderen Menschen zu definieren. Manchmal fällt das gar nicht auf, weil es eine Kongruenz in den Vorstellungen gibt. Ich bin mir dieser Aufgabe eben sehr bewusst. Wenn ich ein Restaurant besuche, äußere ich mich gleich und spreche die Bedienung an, denn wenn ich nicht spreche, könnten sie Gedanken haben wie: „Wer ist das? Hat der nur kurze Arme oder auch einen kurzen Geist?“ Ich präsentiere mich (lacht). Ich weiß, wenn ich einen Joghurt aus dem Regal nehme, stehe ich auf einer Bühne.

 

Was waren die lustigsten oder interessantesten Begegnungen, die Ihnen passiert sind?

 

Rainer Schmidt: Ich glaube, die Hälfte meines Kabarettprogramms besteht aus solchen Begegnungen (lacht). Eigentlich sitze ich gerade an einem neuen Programm, aber während des Lockdowns habe ich gar keine Menschen mehr getroffen – das war eine Katastrophe. Eine Geschichte hat es direkt in das Programm geschafft, die mir tatsächlich in Paderborn passiert ist: ich kam in ein Hotel und hinter dem Tresen steht ein junger Mann, der mit den Papieren beschäftigt war und mich gar nicht bemerkte. Ich ging auf ihn zu und sagte: „Guten Tag, mein Name ist Rainer Schmidt. Für mich wurde ein Zimmer für eine Nacht reserviert.“ Der Mann griff sofort nach einem Zettel, dreht sich um und starrte mich mit offenen Augen an. Ich sah, dass er sehr überrascht war und sagte: „Ich soll bestimmt den Meldeschein ausfüllen.“ Er war sehr irritiert und blickte vom Zettel zu mir und meinte: „Och ne, ist nicht nötig.“ „In anderen Hotels muss ich das auch immer machen, ich könnte ja wenigstens unterschreiben.“ Er blickte sehr bewusst zu den Armen und war höchst überrascht. Er gab mir dann den Zettel und als er den Stift dazulegen wollte, hatte er eine Idee und sagte: „Ach wissen Sie was, machen Sie einfach einen Kringel.“ (lacht). Ich habe dann mit Rainer Kringel unterschrieben…

Tatsächlich war der junge Mann mit der Situation völlig überfordert. Wenn man nicht weiß, wie man einen Menschen behandeln soll, einfach so tun, als wenn es das normalste auf der Welt wäre. Sie können die Person auch fragen, ob sie eine Unterstützung braucht.

 

In Ihren Vorträgen sprechen Sie auch über Inklusion. Was ist das für Sie?

 

Rainer Schmidt: Es gibt zwei Definitionen, die ich benutze. Einmal: Inklusion ist die Kunst des Zusammenlebens von sehr verschiedenen Menschen. Da steckt nicht das Wort „behindert“ drin. Ich erkläre meistens dazu, dass das Wort „gleich“ im Deutschen zwei Konnotationen hat: gleichwertig und gleichartig. Wir beide sind sehr verschiedenartig, wir sind aber gleichwertig. Das ist auch schon der Unterschied zum Faschismus: alle Menschen müssen gleichartig sein, damit sie auch gleichwertig sind.

Zweite Definition: wenn sie diese Kunst des Zusammenlebens eingeübt haben, ist es keine Kunst mehr. Dann ist es völliges Selbstverständnis, miteinander zu leben und zu arbeiten. Das wäre die Verwirklichung von Inklusion. Jeder Mensch an der Hotelrezeption sollte beherzigen: egal, wer hereinkommt: es ist ein Gast und ich behandle ihn nach Knigge.

 

Das ist ein schönes Schlusswort. Herzlichen Dank!

 

Bildquelle: Johannes Hahn

Das Interview führte Katharina Tscheu.

Tischtennis spielen ohne Hände? Rainer Schmidt kann das und zwar sehr erfolgreich. Er ist mit zwei verkürzten Armen und einem verkürzten rechten Bein auf die Welt gekommen. Lange war die Ursache dafür unklar. Zunächst wurde das Amniotische-Band-Syndrom vermutet. Dabei schnüren fibröse Bänder in der Gebärmutter Körperteile des ungeborenen Kindes ab. Doch dies erklärt nicht, warum der rechte Oberschenkel verkürzt ist. Mittlerweile ist davon auszugehen, dass Rainer Schmidt mit dem Femur-Fibula-Ulna-Syndrom zur Welt gekommen ist. Diese angeborene Behinderung ist sehr selten und betrifft – wie der Name schon sagt – die Knochen Femur (Oberschenkelknochen), Fibula (Unterschenkelknochen) und Ulna (Unterarmknochen), die unterschiedliche Defekte aufweisen können. Das Spektrum reicht dabei von einem vollständigen Fehlen (Aplasie) über eine Verkürzung (Hypoplasie) bis hin zu asymmetrischen Veränderungen, wobei Arme häufiger betroffen sind als Beine und die rechte Seite eher verändert ist als die linke – genau wie bei Rainer Schmidt.

Der vierfache Paralympicssieger erzählt uns nicht nur vom Rätseln seiner ÄrztInnen, sondern berichtet auch von seinen sportlichen Erfahrungen und seiner zweiten Karriere: als evangelischer Pfarrer und Kabarettist.