Veit Schopper: Ich war nicht ganz 17 Jahre alt und befand mich mit meinem Motorrad auf dem Nachhauseweg. Mir kamen zwei PKWs entgegen. Einer von diesen überholte den anderen, obwohl ich auf der Straße eigentlich den Gegenverkehr darstellte. Dabei erwischte er mich.
Wie ging es aus medizinischer Sicht für Dich im Krankenhaus weiter?
Veit Schopper: Die Krankenakte war relativ lang, aber ich fasse es auf die vier wesentlichen Verletzungen zusammen: das ist eine Oberschenkelamputation auf der linken Seite, ein Pneumothorax (Anmerkung der Redaktion: die Lunge ist normalerweise über den Pleuraspalt mit dem Thoraxskelett verbunden. Bei einem Pneumothorax dringt Luft in den Spalt ein und die Lunge fällt in sich zusammen.) auf der linken Seite, eine Armplexusparese mit einer schlaffen Lähmung auf der linken Seite und eine Radius-Ulna-Fraktur (Anmerkung der Redaktion: ein Bruch der Unterarmknochen) auch auf der linken Seite. Dann könnte man es noch weiter herunterbrechen, welche Sehnen und Handwurzelknochen noch beschädigt wurden, aber die vier Aspekte beschreiben es schon ganz gut.
Was wurde bei derart vielen Verletzungen als erstes versorgt?
Veit Schopper: Ich kann Dir nicht das genaue Prozedere schildern. Nachdem ich vor Ort stabilisiert und mit dem Rettungshubschrauber ins Uniklinikum Regensburg gebracht worden war, war ich klassisch im Schockraum. Die Armplexusparese wurde erst später diagnostiziert, da sie zunächst nicht auffiel. Es gab schließlich andere und offensichtlichere Traumata. Das wichtigste bestand wohl darin, den Blutfluss auf der linken Seite zu stillen, die Oberschenkelarterie und die Wunde zu verschließen. Ansonsten musste schnell das Kompartmentsyndrom (Anmerkung der Redaktion: dabei erhöht sich der Druck im Gewebe durch z. B. Bluteinstrom. Dieser Druck kann aufgrund von festen Bindegewebszügen nicht entweichen und kann daher Organe beschädigen.) auf der linken Seite behoben werden, das durch die offene Radius-Ulna-Fraktur entstand. Außerdem wurde noch ein Zugang in die linke Pleurahöhle gelegt. Das kann ich aber nur grob wiedergeben nachdem, was mir erzählt wurde.
Mit 16 Jahren warst Du noch sehr jung und hattest Dein ganzes Leben noch vor Dir. Wie bist Du mit der Situation umgegangen?
Veit Schopper: Weil Du sagtest, man „hatte“ das Leben noch vor sich: Gott sei Dank endete es nicht (lacht). Es gibt natürlich Einschränkungen, die der Unfall bedingt. Mit Ausnahme der Armplexusparese habe ich keine psychischen oder neuronalen Schäden davongetragen. Ich habe lediglich eine körperliche Behinderung, die Stress genug ist, aber mich vom Kopf her nicht einschränkt. Unmittelbar nach dem Unfall realisiert man das nicht wirklich. Du bist voll mit Analgetika (Anmerkung der Redaktion: schmerzlindernde Medikamente). Hinzu kommt der metabolische Schock. In dem Moment liegt dein Fokus darauf, normal atmen zu können. Du wechselst zwischen einer Art Delirium und Bewusstlosigkeit. Das pendelte sich bei mir zum Glück sehr schnell ein, sodass ich nach vier Tagen auf der Intensivstation auf die Normalstation verlegt werden konnte. Ich war auch nur knapp zwölf Stunden im künstlichen Koma – entgegen der medizinischen Empfehlung. Mein Vater ist Tiermediziner, dementsprechend ist er nicht fachfremd (lacht). Er hat oft genug Polytrauma bei Katzen und Hunden, sodass ihm das Prozedere bekannt ist. Zu dem Zeitpunkt entschied er als mein Vormund gegen den Rat der Ärzte, mich aus dem künstlichen Koma zu holen, damit ich bei Bewusstsein bin und mein Organismus aktiv arbeiten kann. So wollte er Infektionen aufgrund des offenen Zugangs verhindern. Das war natürlich keine schöne Zeit, weil der Körper sehr erschöpft ist. Ich hatte einen extremen Blutverlust: mir wurden vierundzwanzig Liter meiner Blutgruppe transfundiert. Das klingt zunächst nur nach einem einfachen Ölwechsel, aber wenn man das einmal mitmachen musste, weiß man, wie sehr dabei der Organismus unter Stress steht. Daher war es sehr erstaunlich, dass ich schon nach vier Tagen auf die Normalstation und von dort nach weiteren vierzehn Tagen in die Reha verlegt werden konnte. Das ist wirklich die absolute Ausnahme.
Zu diesem Zeitpunkt lebtest Du aber noch in Regensburg. Wie kamst Du zum Sportstudium nach Köln?
Veit Schopper: Vor dem Sportstudium absolvierte ich ein Betriebswirtschaftsstudium und begann parallel mit dem Para-Sport. Im Rahmen dessen kam es zu einem Vereinswechsel zu TSV Bayer 04 Leverkusen. Der Verein baute bereits in den 1960er-Jahren einen Para-Sportbereich auf und ist deutschlandweit, was die Mitgliederanzahl und das Know-How in der Para-Leichtathletik anbelangt, führend. In Regensburg war das Know-How in der Para-Leichtathletik nicht derart gegeben, sodass ich nach Leverkusen wechselte. Nach Ende des BWL-Studiums suchte ich mir eine neue Herausforderung: das Sportstudium als Verknüpfung von Medizin (Anatomie, Physiologie und Biomechanik) und Sport. Ich bewarb mich für den Eignungstest an der Sporthochschule und begann schließlich im Sommersemester 2016 das Sportstudium, genauer gesagt den Bachelorstudiengang Sport und Leistung.
Vermutlich bist Du schon oft gefragt worden, wo für Dich besondere Schwierigkeiten beim Eignungstest lagen, weshalb mich interessiert, ob es auch eine Disziplin gab / gibt, in der Du besser als andere Teilnehmende warst.
Veit Schopper: Eine Sportart oder eine Teildisziplin, bei der ich zumindest den männlichen Kommilitonen überlegen war, gab es nicht. Das wäre auch ziemlich unwahrscheinlich, finde ich. Es wird nicht zwangsläufig nach den Defiziten gefragt, diese spielen nur für das Bestehen eine Rolle. Was ich sehr mochte, war das Tischtennis und natürlich auch die Leichtathletik. Normalerweise besteht das Turnen aus Unterdisziplinen: bei mir wurde das Turnen aber nur als ein Defizit gewertet, da ich keine Disziplin gemäß den Vorgaben erfüllen konnte. Dabei war das Defizit aber eindeutig der Behinderung geschuldet und nicht mangelnder Vorbereitung, sodass ich auch mit diesem Defizit den Eignungstest bestehen konnte. BewerberInnen mit Behinderung, die zum Eignungstest antreten, ist es per Gesetz gestattet, den Test zu bestehen, aber eben auch nicht zu bestehen. Wenn man sich ausreichend auf den Test vorbereitet, sollte jede und jeder in der Lage sein, den Test auch zu bestehen. Bei jemanden, der mit Behinderung antritt, ist es so, dass der Behindertenbeauftragte und eine Zweitgutachterin den gesamten Test mitverfolgen. Sie sehen sich jede Teildisziplin an und beurteilen aufgrund ihrer Vorerfahrungen, ob – wenn es zu einem Defizit kommt – das Defizit mangelnder Vorbereitung oder der Behinderung geschuldet ist. Es kann natürlich auch sein, dass jemand einen Behindertenbonus haben möchte und sich nicht genügend vorbereitet. Ich mag diesen Ausdruck nicht, aber es gibt in der Community von Menschen mit Behinderung leider auch Personen, die sich auf die faule Haut legen und die Situation ausnutzen möchten. Im Sport gilt es, dies entsprechend zu sanktionieren.
Du warst nicht nur in der Leichtathletik aktiv, sondern auch im Organisationskomitee der Para-Europameisterschaft der Leichtathletik 2018 in Berlin, die ich als Volunteer begleiten durfte. Was waren Deine Aufgaben?
Veit Schopper: Meine Position nannte sich „Eventpresentationmanager“. Das heißt, dass ich für die Außendarstellung des Events während der eigentlichen Veranstaltung zuständig war. Das hat nichts mit Marketing, oder Plakaten, die vorher in der Stadt aufgehangen wurden, zu tun. Ich war für die Darstellung unmittelbar während der Veranstaltung zuständig: auf einer digitalen Bande oder der Videowand müssen jederzeit die richtigen Werbeanzeigen zu sehen sein, der Stadionsprecher muss jederzeit die entsprechenden technischen Mittel für seine Ansagen zur Verfügung haben, die Kommentatoren müssen technisch versorgt sein. Generell die ganzen technischen Gerätschaften wie die Videoleinwand müssen funktionieren. Die Schnittstellen zwischen den Kommentatoren und der Person, die die Musik einspielt, müssen funktionieren. Und und und. Im Vorfeld der Veranstaltung ist es eher Eventmanagement: welche Technik brauchen wir? Was ist an Technik schon vorhanden? Wer wird die Technik bedienen? Wer wird StadionsprecherIn? Wer wird KommentatorIn? Das muss organisiert werden, damit möglichst alles reibungslos abläuft.
Als Volunteer durfte ich die Europameisterschaft als sehr aufregend, ein wenig stressig, aber insgesamt als ein tolles Event erleben. Wie hast Du die Zeit in Berlin erlebt?
Veit Schopper: In der Vorbereitung waren die Tage sehr lang: von morgens sieben Uhr bis abends 22 oder 23 Uhr. Es gab allerdings KollegInnen im Organisationskomitee, die noch deutlich längere Tage bzw. kürzere Nächte hatten. In den beiden Wochen vor den Wettbewerben lief ich nur noch im Autopilot. Im Kopf werden die Checklisten abgerattert, ob man auch wirklich an alles gedacht hat. Wenn Luft ist, hilft man dort, wo gerade Hilfe gebraucht wird. Während der Veranstaltung selbst – ohne mich loben zu wollen (lacht) – lief alles. Da ich nicht für die Bedienung der Technik zuständig war, übernahmen andere die Aufgaben wie z. B. die Bedienung der Stadionleinwand. Da unser Arbeitsplatz sehr vorteilhaft positioniert war, konnte ich das gesamte Stadion überblicken und die meiste Zeit die Wettkämpfe und Siegerehrungen verfolgen. Dabei musste ich nur immer einen Knopf im Ohr haben, um dennoch immer alles mitzubekommen, was hinter den Kulissen passiert.
Gab es bei all der Arbeit für Dich denn ein (sportliches) Highlight?
Veit Schopper: Das ist schwierig zu sagen. Wie Du es als Volontärin auch erlebtest, kommen ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen zusammen, wobei keine Person einen traurigen Eindruck macht. Wir bekamen nach der Veranstaltung sehr viel positives Feedback. Im Vorfeld gab es aber auch Kritik, da lange Zeit einige Informationen für die AthletInnen fehlten. Rückwirkend bekamen wir aber wirklich viele tolle Rückmeldungen. Andererseits konnten wir alle AthletInnen in zwei Hotels, die unmittelbar nebeneinander lagen, unterbringen, sodass es einen tollen Austausch zwischen den AthletInnen gab. Dort hatten sie alles, was sie brauchten. Es lief alles reibungslos, jeden aufflammenden Krisenherd konnten wir im Keim ersticken, sodass es von unserer Seite aus eine sehr schöne Veranstaltung war.
Kreuzheben oder auf Englisch Deadlift ist Teil des Kraftdreikampfes. Bei dieser Übung wird ein Gewicht, meistens eine Langhantel, aus einer stabilen Position hochgehoben. Dabei wird der gesamte Körper trainiert, vor allem aber die Muskulatur des Rückens und des Oberschenkels. Veit Schopper führt die Übung im Gegensatz zu den meisten Personen mit nur einem Arm aus. Seit einem Motorradunfall kann er nur noch mit der rechten Hand greifen, da auf der linken Seite das Nervengeflecht (Plexus), das den Arm innerviert, im Rückenmark ausgerissen ist. Hier laufen zahlreiche Nerven zusammen, die sich weiter verzweigen und den Arm- und Schulterbereich versorgen. Grundsätzlich wird zwischen einer kompletten und einer inkompletten Lähmung unterschieden, je nachdem, welche und wie viele Nerven betroffen sind. Die Verletzung des Armplexus sorgt bei Veit dafür, dass sein linker Arm gelähmt ist. Er kann diesen nicht mehr aktiv bewegen. Bei dem Motorradunfall ist aber auch sein linkes Bein schwer getroffen worden, sodass er seitdem oberschenkelamputiert ist.
Deadlifts und andere Übungen führt der vielseitige Sportstudent Veit daher anders aus als seine zweiarmigen und zweibeinigen TrainingskollegInnen. Warum er mittlerweile sogar den Trainerschein beim CrossFit® hat, wie er aus Regensburg nach Köln an die Sporthochschule kam und welche Aufgaben er bei der Para-Leichtathletik-Europameisterschaft 2018 in Berlin hatte, erzählt er uns im Interview.
Hallo Veit, vielen Dank, dass Du unsere Fragen beantwortest. Im Alter von 16 Jahren hattest Du einen Motorradunfall. Was genau ist passiert?
Mittlerweile hast Du Dich dem CrossFit® verschrieben. Im Video zeigst Du uns, was CrossFit® alles umfasst. Wie bist Du überhaupt zum Crossfit® gekommen?
Veit Schopper: Tatsächlich kam ich nicht unmittelbar zum CrossFit®, sondern zunächst stand ich im Kontakt zum klassischen Krafttraining, das ein Leichtathletiktraining begleitet. Ein wesentlicher Teil besteht aus Gewichtheben. Da ich mich während meiner aktiven Zeit bei Bayer Leverkusen am Knie verletzte, entschloss ich mich dazu, die Para-Leichtathletik nicht weiter zu verfolgen, sondern mich dem klassischen Krafttraining zu verschreiben, sodass ich zum klassischen Kraftdreikampf kam: der besteht aus schweren Kniebeugen mit einer Langhantel im Nacken, Bankdrücken und dem Kreuzheben (neudeutsch: Deadlift). Diese Übungen sind auch wesentliche Bestandteile des CrossFit®s. Ein Freund nahm mich irgendwann zu einem Einführungskurs mit. Der ist nur eine Stunde lang, bei dem klassische Übungen des CrossFit®s gezeigt werden. Am Ende gibt es noch das Workout of the day (WOD): das ist der Abschluss einer klassischen Trainingseinheit. Das Konzept fixte mich an, sodass ich mich zum Gewichthebertrainer ausbilden ließ und auch die erste Stufe zum Crossfit®trainer absolvierte.
Für manch einen ist das klassische Gewichtheben schon eine Herausforderung. Wie ist Dir der Einstieg gelungen und wie hast Du herausgefunden, welche Hilfsmittel Du brauchst?
Veit Schopper: Bei manchen Übungen oder Trainingsmitteln war aus der Logik heraus klar, was ich brauche. Ein Klassiker ist eine Zughilfe. Das ist eine Schlaufe, die du um das Handgelenk legst. Am Ende der Schlaufe gibt es einen breiten Streifen, der um die Langhantel gewickelt wird. Das ist eine Hilfe, um die Hantel besser und länger zu greifen. Dies gibt es in verschiedenen Ausführungen mit z. B. einer Stahlkralle. Für die Deadlifts stand dieses Hilfsmittel sofort fest. Beim Rest probierte ich viel aus. CrossFit® gibt es seit gut zwanzig Jahren und entstand in den USA. Durch deren Vielzahl an Kriegsversehrten war CrossFit® sehr früh dazu dar, Workouts mit Handicap (wobei das Handicap nicht unbedingt chronisch sein muss; auch mit einem Kreuzbandriss kann man längere Zeit nicht die volle Leistung bringen) zu absolvieren. Dadurch steht von vorneherein schon viel im Internet zur Verfügung. Die meisten Übungen kann man auch in Teilübungen herunterbrechen, sodass ich nur Teilelemente oder ähnliche Übungen absolviere. Was das klassische Gewichtheben anbelangt, besteht der einzige Unterschied darin, dass ich nicht mit zwei Händen, sondern nur mit einer Hand greife und dann fast eine identische Bewegung ausführe. Manchmal liegt der ideale Weg näher als man meinen möchte.
Zum Abschluss möchte ich noch wissen, wie es für Dich weitergeht. Dein Sportstudium neigt sich schließlich dem Ende entgegen.
Veit Schopper: Ich war zwei Jahre lang wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Biomechanik und Orthopädie. Aktuell absolvierte ich gerade erst ein Pflichtpraktikum bei Ottobock, dem Weltmarktführer für Prothetik und Orthetik mit ihrem Hauptsitz in Duderstadt. In Göttingen gibt es ein Biochmechanik- bzw. Ganganalyselabor, bei dem ich zum Pflichtpraktikum in genau diesem Bereich mit dem Schwerpunkt auf die Versorgung der unteren Extremitäten war. Allerdings gibt es durchaus auch Fragestellungen für den Oberkörper. Am Institut bearbeitete ich auch Fragestellungen zur Bewegungsanalyse, allerdings sportartenspezifische Fragestellungen. Die Bewegungsanalyse erfolgt dabei mittels 3D-Bewegungsansalysesystem bestehend aus Infrarotkameras und Kraftmessplatten. Der Bereich umfasst aber noch viel mehr wie Spiroergometrie oder Dynamometrie. Speziell am Institut für Biomechanik und Orthopädie sind die Fragestellungen sehr breitgefächert. Mit der Zeit spezialisiert man sich natürlich, insbesondere wenn es in Richtung Master oder gar Promotion geht. Zunächst erhält man aber einen allgemeinen Überblick.
Für den weiteren Weg wünschen wir Dir jedenfalls alles Gute und noch einmal herzlichen Dank für das spannende Gespräch!
Das Interview führte Katharina Tscheu.