Piloten werden gemeinhin mit Flugzeugen in Verbindung gebracht. Wenn Tim Kleinwächter in eine ausgedehnte Fahrradtour oder in einem Wettkampf startet, ist eine Pilotin oder ein Pilot immer mit an Bord seines Tandems. In Folge eines Unfalls und einer Gehirnblutung wurden Tims Sehnerven gequetscht. Eine Sehstörung nach einer Hirnschädigung tritt in rund 30 bis 40 Prozent der Fälle auf. Mancher Betroffene sieht Doppelbilder oder das Gesichtsfeld ist eingeschränkt. Wieder andere erblinden kurz- oder langfristig auf einem oder beiden Augen. Bei jedem Menschen läuft dies unterschiedlich ab und ist abhängig davon, wie umfangreich und an welcher Stelle des Gehirns eine Hirnschädigung wie eine Blutung oder auch ein Infarkt auftritt.
Heute erkennt Tim wieder Schemen und ist sportlich auf dem Fahrrad, zu Fuß oder im Wasser unterwegs. Ende 2021 verließ Tim die Para-Radsport-Nationalmannschaft und konzentriert sich seitdem auf Triathlonveranstaltungen. Neben dem Sport arbeitet er als Physiotherapeut – ursprünglich ist er gelernter Zimmerer.
Hallo Tim, vielen Dank, dass Du so kurz nach Deinem Training schon wieder die Zeit und die Luft gefunden hast, um zahlreiche Fragen zu beantworten. Du bist nicht von Geburt an blind, sondern kannst erst seit einem Unfall nicht mehr richtig sehen. Was ist passiert?
Tim Kleinwächter: Nach einem nächtlichen Fahrradunfall fand mich mein Vater früh am Morgen gut 500 Meter vor der Haustür auf einem Pick-Up liegend. Das Fahrrad lag zerstört dahinter. Die Polizei konnte den Hergang bis heute nicht genau klären. Mein Vater brachte mich nach Hause, da ich keinerlei äußere Verletzungen hatte, aber nicht mehr ansprechbar war. Da sich mein Zustand aber schnell verschlechterte, kam ich erst ins örtliche Krankenhaus und kurze Zeit später mit dem Rettungshubschrauber nach Würzburg in die Uniklinik. Ein sehr engagierter Arzt und Chirurg rettete mir dort mit seinem Einsatz nicht nur mein Leben. Ich lag dort 4 Wochen im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Dann wurde ich in die neurologische Rehaklinik nach Bad Neustadt/Saale verlegt, wo ich noch fast 3 Monate in Behandlung war.
Erst dort kam es dazu, dass Du aufwachen konntest. Wie war das Gefühl, zum ersten Mal die Augen wieder zu öffnen?
Tim Kleinwächter: Als ich das erste Mal bewusst aufwachte, lag ich mit geschlossenen Augen im Bett und dachte nur, dass ich bloß nicht aufstehen, sondern einfach weiterschlafen möchte. Schließlich öffnete ich die Augen und es war alles kohlrabenschwarz. Das war ein einziger Albtraum, sodass ich meine Augen einfach wieder zumachte und weiterschlief. Das nächste Mal öffnete ich am Geburtstag meines Bruders die Augen – vier Wochen später. Ich konnte zumindest Schatten und ein wenig schwarz-weiß sehen. Von diesen vier Wochen weiß ich nichts mehr und ich möchte auch gar nicht wissen, was in diesen Wochen mit mir alles angestellt wurde. Vermutlich bekam ich die besten Drogen der Welt (lacht).
Bei dem Unfall warst Du gerade einmal siebzehn Jahre alt. Wie hast Du als Jugendlicher die Zeit im Krankenhaus und den Unfall aufgenommen?
Tim Kleinwächter: Ich lernte eben schon mit siebzehn Jahren, dass man sterblich ist – andere lernen es erst viel später. Wenn Du einen solchen Unfall hast, fokussierst Du Dich zunächst auf die Grundbedürfnisse. Zu dem Nichtssehen kam, dass meine rechte Körperhälfte gelähmt war und ich im Rollstuhl saß. Ich musste wieder laufen und bewegen lernen. Mit guter ärztlicher und physiotherapeutischer Betreuung, eisernem Willen und der Unterstützung meiner Familie gelang mir die Rückkehr ins Leben im folgenden Jahr.
Du bist aufgewacht und konntest nicht mehr sehen. Wie genau kann ich mir als sehender Mensch denn vorstellen, was Du jetzt noch siehst?
Tim Kleinwächter: Wenn man bei einem alten Röhrenfernseher das Kabel herauszieht, bleibt nur noch ein graues, grieseliges Bild. Das graue Bild siehst du – ich sehe zusätzlich darüber schwarze Punkte. Ich sehe also ein verpixeltes Bild. Wenn du in die Sonne schaust, siehst du auch ultraviolette Punkte. Da meine Augen ganz gesund sind, bei mir die Verbindung vom Gehirn zum Auge defekt ist, ist „mein Sehen“ komplett anders als bei Menschen mit einer Augenerkrankung oder einem Augenschaden. Darum sehe ich auch für andere nicht typisch blind aus. Meine Augen reagieren ganz normal, sodass ich auch fokussieren kann, allerdings nicht so sehen kann wie du.
Wie hat sich Dein Leben durch den Unfall insgesamt verändert?
Tim Kleinwächter: Mein Leben änderte sich durch den Unfall komplett. Vor dem Unfall fuhr ich wesentlich weniger Fahrrad und war allgemein nicht so sportlich, ich aß kein Gemüse und war viel feiern. Ich aß also relativ ungesund. Heute lebe ich gesünder. Früher wäre das für mich gar nicht möglich gewesen (lacht).
Wie kam es überhaupt dazu, dass Du Dich für das Fahrradfahren begeistert hast?
Tim Kleinwächter: Ich bin vor dem Unfall schon gerne Fahrrad gefahren. Als ich auf der Aufwachstation lag, ärgerte ich mich vor allem, dass das nicht mehr möglich war. Von dem Fahrradunfall weiß ich schließlich nichts mehr (lacht). Ich bedauerte hingegen nicht, dass Autofahren nicht mehr möglich ist. Am Freitag vor dem Unfall absolvierte ich erfolgreich meine theoretische Führerscheinprüfung. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wäre mein Leben fast vorbei gewesen.
Nach einer Ernährungsumstellung begann ich im September 2007 mit dem Laufen. Ein halbes Jahr später schaffte ich meinen ersten 10-Kilometer-Lauf, im Oktober 2008 auch meinen ersten Halbmarathon – alles mit Begleitung. Mein Laufhöhepunkt war der Frankfurt Marathon 2013, wo ich drei sich abwechselnde Begleitläufer hatte. Meine Laufzeiten verbesserten sich stetig. Das taugte mir. 2010 fing ich auch schon das Fahrradtraining zuhause auf der Rolle an, ein Jahr später stieg ich zum ersten Mal auf ein Tandem mit einem Bekannten. Seitdem fuhr ich vermutlich rund 280.000 Kilometer auf dem Tandem (lacht).
Ich stelle mir vor, dass Du eine Menge Vertrauen in Deine Piloten brauchst und es zwischen beiden Fahrern eine ganz besondere Beziehung gibt.
Tim Kleinwächter: Das stimmt, das kann auch nicht jeder machen. Da bedarf es schon eines guten fahrerischen Könnens. Beim Paracycling hatte ich die ersten Jahre den ehemaligen Radprofi Eric Mohs, auf den ich mich absolut verlassen konnte. Die letzten vier Jahre war ich mit dem Arzt Dr. Peter Renner aus unserem Radteam weltweit unterwegs, mit dem sich auch privat eine gute Freundschaft entwickelte. Leider musste er aus beruflichen und familiären Gründen seine sportlichen Aktivitäten reduzieren und steht nicht mehr zur Verfügung.
Heute ist meine Partnerin auch eine meiner Piloten. Sie ist Triathletin. Im letzten Jahr hatten wir eine besondere Tour. Wir schickten das Tandem nach Flensburg und fuhren mit dem Zug hinterher. Von Flensburg fuhren wir über den Ostseeradweg nach Lübeck, weiter nach Ratzeburg, an der Elbe entlang bis nach Thüringen, über den Rennsteig in die fränkische Schweiz und nach Hause. Wir waren dreizehn Tage unterwegs. Es ist absolut von Vorteil, wenn die Partnerin den eigenen Splin teilt (lacht). Bikepacking erfüllt mich immer mehr. Das habe ich vorher nie gemacht. Es ist einfach klasse mit dem Fahrrad und einem Zelt unterwegs zu sein und dort zu übernachten, wo es mir gefällt.
Mittlerweile geht aber auch Dein Fokus in Richtung Triathlon – wie kam es zum Wechsel der Sportarten?
Tim Kleinwächter: Genau, ich wechsle jetzt zum Triathlon. Ich durchlief mit dem Renntandem jeweils den Zyklus für die paralympischen Spiele in Rio und in Tokio. Allerdings verfehlte ich die Nominierungen für die Spiele knapp. Daher entschied ich mich, dass ich nur noch bei Triathlonveranstaltungen das Fahrradfahren in den Staffeln übernehme. Wenn ich bei der Challenge Roth fahre, finden das alle super. Wenn ich beim Paracycling irgendwo am Ende der Welt eine Weltmeisterschaft fahre, interessiert das sehr wenige, obwohl ich zwölfmal Deutscher Meister auf der Straße und der Bahn bin.
2020 organisierten wir selbst einen Weltrekordversuch auf der Strecke der Challenge Roth: die beinamputierte Schwimmerin und ehemalige Pararadsportlerin Christiane Reppe übernahm den Schwimmpart, auf nicht abgesperrten Straßen fuhr ich danach mit meinem Piloten Peter Renner auf dem Renntandem und der Para-Radsportler Thomas Frühwirth aus Österreich absolvierte den abschließenden Marathon mit seinem eigens konzipierten Rennrollstuhl. Wir brauchten 6 Stunden 45 Minuten – so etwas interessiert und begeistert die Menschen.
Fehlt die Aufmerksamkeit nur dem Paracycling oder dem gesamten Para-Sport?
Tim Kleinwächter: Wir bekommen mehr Aufmerksamkeit als früher. Es ist gut, dass von den letzten Paralympics mehr live im Fernsehen übertragen wurde. Es muss sich aber auch immer noch viel verbessern. Ich glaube, dass es ein Problem des gesamten Para-Sports ist. Massensport wie Fußball interessiert die Menschen in Deutschland viel mehr, was in anderen Ländern wie den Niederlanden, Belgien ect. ganz anders ist. Wenn ich keine Privatsponsoren hätte, was nicht leicht ist, hätte ich nicht meine sportliche Ausrüstung mit mehreren Tandems. So ein Renntandem ist nicht gerade günstig und mit nur einem ist es leider nicht getan. Aber dafür habe ich eben kein Auto (lacht).
Im Vergleich zwischen Triathlon und „nur“ Radfahren: wo liegen Schwierigkeiten in Deiner neuen Sportart für Dich?
Tim Kleinwächter: Ich hoffe, dass es im Triathlon gut funktioniert. Ich muss jetzt noch einen Guide finden, der es dauerhaft mit mir macht. Da reicht es nicht mehr, „nur“ Rad zu fahren. Mein Begleiter muss mit mir schwimmen, radfahren und laufen – und zwar so schnell wie ich. Außerdem muss er noch die Luft haben, mit mir die ganze Zeit zu reden. Bei manchen Laufveranstaltungen ist es schon passiert, dass meinem Begleitläufer die Luft ausging und ich mich an andere Läufer dranhängen konnte (lacht).
Neben dem täglichen Training arbeitest Du auch noch. Wie organisierst Du Dich?
Tim Kleinwächter: Seit November 2021 arbeite ich wieder als Physiotherapeut. Es ist schon eine Herausforderung, Beruf, Training und Privates zu organisieren, aber ich würde sagen, dass es mir gut gelingt. Allerdings weiß ich auch, was körperlich schweres Arbeiten bedeutet. Ich lernte Zimmerer und arbeitete draußen auf dem Bau – egal bei welchem Wetter. Ich war immer der, der am längsten und am höchsten oben auf dem Dach war (lacht). Für mich gab es kein zu groß.
Die Berufe Physiotherapeut und Zimmerer liegen nicht gerade auf der Hand. Warum genau hast Du Dich schließlich für die Physiotherapie entschieden?
Tim Kleinwächter: Ich wurde Physiotherapeut, weil ich nichts mehr sehe – Zimmerer wäre da schwieriger (lacht). Die beiden Berufe verbindet zumindest, dass es beides Handwerke sind und ich mich bewegen kann. Ich holte meine mittlere Reife nach und absolvierte eine Berufsfindung. Als ich früher in der Schule war, scheiterte es an Englisch und X-Gleichungen in Mathematik – beim zweiten Mal konnte ich diese Gleichungen immer noch nicht und ich habe sie bis heute noch nicht gebraucht (lacht). Bei der Berufsfindung hatte ich die Wahl zwischen Metall, Büro und Physikalisch. Büro schied aus, da ich zum Lesen länger brauche als jemand, der sehen kann. Metall ist kalt – Holz ist ein warmer Werkstoff und viel schöner. Masseur und Physio ist eben auch eine besondere Art des Handwerks und ich kann durch viel eigene Erfahrung aus meinem Sport diese an andere Athleten weitergeben.
Die Ausbildung zum Masseur und Physiotherapeuten ist anspruchsvoll. Wie hast Du diese Zeit erlebt?
Tim Kleinwächter: Zunächst absolvierte ich die Ausbildung zum Masseur an der Blindenschule. Das war eine eigene Welt, an die ich mich erst gewöhnen musste. Für die Ausbildung war ich vier Jahre in Nürnberg. Die letzten eineinhalb Jahre war ich in einer „normalen“ Physiotherapieschule, hier war ich der Einzige, der nichts sehen konnte. Ich hatte da gute Hilfe durch einen Banknachbarn. Die Lehrer mussten die Unterlagen digitalisieren, denn ich kam mit den gedruckten Unterlagen nicht klar, nach holprigem Start klappte das aber gut. Ich selber arbeitete mit meiner Lesekamera und dem Laptop. Ich war sehr dankbar, als ich mein Examen erfolgreich auf das erste Mal hatte (lacht).
Vielen Dank für Deine Ausführungen und alles Gute für Deine nächsten Ziele.
Das Interview führte Katharina Tscheu